hamburg:pur April 2025
Foto: Oliver Fantitsch THEATER Legt sich mit den Göttern an: Odysseus als selbstbe wusster Friese Probleme mit dem Untermieter (Mirco Kreibich): Lina Beckmann als „Abweich lerin“ Lise Die Abweichlerin Packendes Porträt einer Ehe „Ich war fast tot.“ Die Körpertemperatur hatte sich schon auf 26 Grad gesenkt, berichtet Lina Beckmann. Sie verkörpert Tove Ditlevsen und erzählt vom geschei terten Selbstmordversuch. Knapp zwei Jahre später nimmt die populäre dänische Dichterin sich tatsäch lich das Leben, im März 1976. In der Zeit dazwischen schrieb Ditlevsen ihren letzten Roman: „Vilhelms Zim mer“. Der diente nun als Vorlage für Karin Henkels Inszenierung „Die Abweichlerin“, die als deutsch sprachige Erstaufführung imSchauspielhaus auf dem Spielplan steht. Der 140-minütige Abend ist viel mehr als die Dramati sierung von Literatur, er entwirft das ebenso facetten- wie entbehrungsreiche Leben der 1917 geborenen Schriftstellerin, die zeitlebens unter Abhängigkeiten litt. Ausgangspunkt für die Erzählung ist das Scheitern von Ditlevsens vierter Ehe, „Vilhelms Zimmer“ ist ein leeres Zimmer. In ihrem Roman lässt sie ihre Protago nistin Lise erleben, was ihr widerfuhr. Lina Beckmann springt zwischen den beiden Frauenfiguren hin und her: Als Lise erzählt sie in der dritten Person, als Tove wird sie zur Ich-Erzählerin. Alle anderen Akteurinnen und Akteure scheint sie zu dirigieren: ihren Sohn, den neuen Mitbewohner, ja sogar die Geliebte ihres Man nes. Ebenso oft fällt sie jedoch in die Rolle derjenigen, über die verfügt wird. Zeiten, in denen sie ihre Gedichte und Romane schreiben konnte, waren teuer erkauft: Meist entstanden sie nach unregelmäßigen Zusammen brüchen während ihrer Aufenthalte in Nervenheilan stalten. Lina Beckmann ist Angelpunkt des Abends: Sie berührt als Alkoholkranke, gewinnt das Publikum in Rückblenden in die Kindheit und fasziniert als verzwei felte, fast fröhlich in den Tod gehende Künstlerin, die am Schluss sagt, man müsse sie nicht verstehen. Sie endet in einem schwarzen Plastiksack. Bewegendes Theater. Text: Dagmar Ellen Fischer 16., 30. APRIL UND WEITERE TERMINE; Deutsches Schauspielhaus Oddos See Urkomische Umdeutung eines Mythos Shanty-Musical, Selbstfindungstrip oder Götterdämmerung – Murat Yeginers urkomisches, dabei hintergründiges Schauspiel „Oddos See – Eine irre Fahrt“ frei nach Motiven von Homer passt in viele Schubladen. Entsprechend facettenreich ist auch die Haupt- und Heldenfigur Oddo (stark als Freidenker: Jannik Nowak) angelegt: Mit dem Platt schnackenden Heroen tritt ein ganz neuer Odysseus-Typ auf den Plan. Als bodenständiger, da bei durchaus seemannsromantischer, vor allem aber selbst bewusster Friese bietet Oddo den Göttern die Stirn, indem er sie abschafft. Zeus, Poseidon, Athene und (der von Cem Lukas Yeginer schillernd interpretierte) Apollo, die per Videozoom auf treten, fühlen sich schon wegen der fremden Sprache, derer sie nicht mächtig sind, arg ausgegrenzt. Als Vermittler und Spion wird darum Hermes (großartig: Rabea Lübbe) in Frauengestalt zur Erde geschickt, wo er/sie auf Oddos Floß „Heidi Kabel“ an heuert. An Bord hat der Kapitän gerade den antiken Chor plus Reflexionsebene durch eine Shanty-Combo ersetzt, der neben Oddos Crew auch Jan Paul Werge angehört. Der Komponist und musikalischer Leiter der Inszenierung spielt mit Shrutibox, Banjira, Doppelflöte, Rahmentrommel und Shakapa archaisch wirkende Instrumente, die den fundamentalen Charakter des Abends unterstreichen: Hier werden neue Mythen geschaffen. Oddo besiegt den Zyklopen, die Zauberin Kirke und die Sirenen mit nordischem Pragmatismus, verliebt sich in Hermes und gestaltet sein Schicksal selbst. Zumindest fast. Das an witzigen Regieeinfällen und salopp gestellten großen Fragen reiche Stück bildet den Mittelteil einer Trilogie: Drei Theater deuten jeweils einen Abschnitt der „Odyssee“ neu. Den Anfang machte das Ernst Deutsch Theater im vergangenen Herbst, im kommenden Juni gestaltet das Lichthof Theater den Schluss der Reise als Tanztheater. Text: Julika Pohle 1., 2., 4.–6., 9., 10. APRIL; Ohnsorg-Theater Foto: Lalo Jodlbauer 10 Foto: Maurizio Gambarini 3 FRAGEN AN… Falk Richter, in Ihrer aktuellen Inszenierung „A Perfect Sky“ thematisieren Sie künstli- che Intelligenz. Wo setzen Sie an? Falk Richter: Anhand der Beschäftigung mit KI machen wir ein Stück über Menschen und ihre Besonderheit, Fragilität und Stör- anfälligkeit. KI spiegelt unsere Sehnsucht nach Perfektion, nach Erlösung. Wir wollen auch von der Schönheit des Imperfekten erzählen. Vermutlich fließt Ihre (persönliche) Haltung zu KI in die Entwicklung des Stücks ein, wol- len Sie warnen oder exemplarisch aufklären oder ermutigen, sie zu nutzen? KI ist aus unserem westlichen, kapitalisti- schen Leben nicht mehr wegzudenken, sie ist Teil unseres gesellschaftlichen Organis- mus geworden, es geht also nicht um das Ob, sondern um das Wie im Umgang mit künstlicher Intelligenz. Mich interessiert, wo sie uns helfen kann, wo sie ein Tool ist zum Beispiel gegen Einsamkeit und wo ihre Gren- zen liegen. Ich gebe keine Handlungsanwei- sungen, sondern versuche, Phänomene der Gegenwart zu beschreiben, zuzuspitzen und Falk Richter Regisseur & Autor 3 FRAGEN AN … Inszenierte am Schauspielhaus zuletzt „Die Freiheit einer Frau“ gegeneinander laufen zu lassen. Dabei flie- ßen die Erfahrungen der Mitwirkenden ein: der Schauspieler:innen, aber auch der Tän- zer:innen. Das Projekt ist interdisziplinär, ich entwickle es gemeinsammit Anouk van Dijk und meinem künstlerischen Team: Wir unter- suchen auf der Textebene, aber auch auf einer nonverbalen Ebene, wie KI unser Den- ken, unsere Beziehungen, unsere körperli- che Interaktion und unser politisches Han- deln beeinflusst. Humor ist Ihnen grundsätzlich wichtig. Wird er in Ihrem jüngsten Stück zur Entlarvung angewendet? Es gehört zu den Problemen von KI, dass sie humorlos ist. Viele Ingenieur:innen arbeiten daran, das zu verbessern. In die analoge Welt des Theaters übersetzt, wird das automatisch komisch. Ganz ohne Humor geht es bei mir nicht. Da haben die Menschen gegenüber den Maschinen eindeutig noch einen Vorsprung. Interview: Dagmar Ellen Fischer 26. APRIL (URAUFFÜHRUNG); Deutsches Schauspielhaus 13.4. – 29.5.2025 BUDDENBROOKS EINE FAMILIENSAGA NACH DEM ROMAN VON THOMAS MANN VON JOHN VON DÜFFEL Foto: Sinje Hasheider
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