hamburg:pur April 2024

Foto: TOBIS Foto: Greta De Lazzaris/X Verleih AG Morgen ist auch noch ein Tag Rom, 1946: Delia (Paola Cortellesi) lebt mit ihren drei Kindern, ihrem Mann Ivano (Valerio Mastandrea) sowie dessen bettlä­ gerigem Großvater Ottorino (Giorgio Colangeli) in einer Keller­ wohnung. Der Faschismus ist gerade besiegt, US-Soldaten pa­ trouillieren noch immer in den Straßen. Die Familie hält sich über Wasser. Insbesondere Delia versucht mit Charme und Schlag­ fertigkeit ihrer Rolle als Mutter, Ehefrau und Zweitverdienerin ge­ recht zu werden. Sie kümmert sich um zusätzliche Einnahmen, den Einkauf, das Essen, die Pflege des Großvaters, stellt sich schützend vor die Kinder und opfert sich zum Schutz dieser den Launen ihres Macho-Ehemannes auf. Körperliche und psychische Gewalt gehören für sie zum Alltag. Für Hoffnung sorgt bloß die bevorstehende Verlobung von Tochter Marcella (Romana Mag­ giora Vergano) mit dem besser situierten Giulio (Francesco Centorame). Doch schon bald ahnt Delia, dass ihre Tochter ein ähnliches Schicksal ereilen könnte wie das ihre. Als ein myste­ riöser Brief Delia erreicht, fasst sie den Mut, alles zurückzulassen und ein besseres Leben anzustreben … Mit ihrem Debütfilm entfacht Regisseurin, Darstellerin und Co- Drehbuchautorin Paola Cortellesi ein emotionales Feuerwerk auf der Leinwand. Der komplett in Schwarz-Weiß gehaltene Film ist eine Sensation: kunstvoll und gekonnt in Szene gesetzt, musika­ lisch (Lele Marchitelli) und optisch abwechslungsreich. Geradezu grotesk-genial wird in einer Szene eine Tracht Prügel dargestellt: Da schwingt die flache Hand Ivanos in rhythmischer Präzision und in Zeitlupe in Richtung von Delias Gesicht und geht dann in einen Tanz der Gewalt über. Das ist nicht nur mutig, sondern zeugt von filmischer Könnerschaft. Der Film ist wild und frech inszeniert, bietet aber zugleich die ganze Bandbreite des großen, klassischen Kinos: starke Gefühle, eindrucksvolle Bilder sowie eine mitrei­ ßende, warmherzige Story. Sieben Wochen war „Morgen ist auch noch ein Tag“ Platz 1 der italienischen Kinocharts – und war so­ mit erfolgreicher als „Barbie“ und „Oppenheimer“. Ein Statement für die Rolle und Rechte der Frauen – zum Lachen, zum Weinen, zum Ermutigen. (mag) AB 4. APRIL IT 2023; 118 Min.; R: Paola Cortellesi; D: Paola Cortellesi, Valerio Mastandrea, Romana Maggiora Vergano ★★★★★ FILM Ich Capitano Der 16-jährige Seydou (Seydou Sarr) und sein Cousin Moussa (Moustapha Fall) träumen von einer erfolgreichen Musikkarriere. Seit Langem sparen sie für die Reise aus dem engen, baufälligen Haus ihrer liebevollen Familie im Senegal nach Europa, um dort berühmt zu werden. Trotz aller Warnungen schleichen sich die beiden ohne den Segen der Familie aber mit dem ihrer Ahnen davon. Doch wo erst noch Vorfreude und Abenteuerlust herrsch­ ten, bleiben bald nur noch Angst und blanker Überlebenswille. Schon auf demWeg von Dakar durch die erbarmungslose Wüste müssen die Teenager am eigenen Leib erfahren, mit welcher Grau­ samkeit und Geldgier Geschäft an Migrantinnen und Migranten getrieben wird. Noch bevor sie Tripolis (Libyen) erreichen, werden die beiden getrennt … Mamadou Kouassi, Co-Drehbuchautor und Berater, erzählt mit Regisseur Matteo Garrone („Dogman“) einen Teil seiner eigenen Einwanderungsgeschichte. In enger Zusammenarbeit mit zahl­ reichen jungen Menschen, die nach Europa kamen, zielt Garrone darauf ab, eine authentische Gegenperspektive zur eurozentri­ schen Berichterstattung zu zeigen. Das Ergebnis ist ein scho­ nungsloses Drama über den Verlust einer Kindheit, durchsetzt von magischem Realismus, wie eine Antwort auf das Trauma. Der Film zeigt, was für Hunderttausende Migrantinnen und Mig­ ranten jährlich Realität ist. Im politisch instabilen Libyen sitzen schätzungsweise 700.000 eingewanderte Menschen fest, viele davon Opfer von Kidnapping und Sklaverei. Diejenigen, die es schaffen, die Reise übers Mittelmeer anzutreten, sind noch lange nicht sicher. Im letzten Jahr hat sich die Zahl der Tode auf den Überfahrten in oft seeuntüchtigen Booten verdoppelt. Angesichts der Härte und Aktualität des Themas liefert Seydou Sarr ein überragendes Schauspieldebüt. Nuanciert bringt er einen Protagonisten auf die Leinwand, der trotz all des Schreckens nichts an Sanftmut, Stärke und Hoffnung verliert. „Ich Capitano“, nomi­ niert für den diesjährigen Oscar in der Kategorie Bester Interna­ tionaler Film, klingt noch lange nach dem Abspann nach. (pau) AB 4. APRIL IT/BEL 2023; 124 Min.; R: Matteo Garrone; D: Seydou Sarr, Moustapha Fall, Issaka Sawadogo ★★★★★ 24 Foto: Gravier Productions/Thierry Valletoux Ein Glücksfall Einfallsreich, routiniert und mit einer Prise Komik erzählt Regie- legende Woody Allen in „Ein Glücksfall“ von der jungen Frau Fanny (Lou de Laâge), die mit dem wohlhabenden, kontrollsüchtigen Geschäftsmann Jean (Melvil Poupaud) in einer vermeintlich per- fekten Ehe lebt. Beide sind beruflich erfolgreich, wohnen exklusiv und glücklich in Paris und ihrem Wohnsitz auf dem Land – bis Fanny ihren ehemaligen Klassenkameraden Alain (Niels Schnei- der) trifft. Dieser ist noch immer schwer in sie verliebt – und schon bald ist die kluge, kultivierte, künstlerisch interessierte Fanny von seinen lyrischen Worten verzaubert. Je näher sie sich kommen, desto klarer wird ihr, dass sie nicht das Leben führt, das sie sich insgeheim wünscht und dass sie für ihren Mann Jean bloß eine Art Trophäe ist. Dieser wittert schon bald Verdacht. Kurz darauf ist Alain spurlos verschwunden. Könnte Jean etwas damit zu tun haben? Fannys Mutter Camille (Valérie Lemercier) ist davon über- zeugt und macht sich auf Spurensuche … „Ein Glücksfall“ hat alle Zutaten, die einen guten Woody-Allen- Film ausmachen: Liebe, Komik, Drama und jede Menge Dialog. Einer der größten Geschichtenerzähler der Filmgeschichte zeigt erneut sein ganzes Können und erweist sich dabei einmal mehr als Bewunderer des europäischen Kinos. Die Kameraarbeit von Vittorio Storaro („Apocalypse Now“), der Schnitt, das Set-Design, die ausgewählte Jazzmusik – alles wirkt leicht und stimmig. Der Film erinnert an frühere Werke wie „Match Point“ oder „Verbre- chen und andere Kleinigkeiten“. Zufall und Glück bestimmen da- rin das Leben der Protagonisten. Es ist amüsant, dem Labyrinth zu folgen, in dem die Protagonisten sich verlieren. Dank Allens Gespür für Tempo und Schnitt ist dieser Pfad mit Leichtigkeit und Spannung zu beschreiten. „Ein Glücksfall“ überzeugte bei der Premiere in Venedig 2023 sowohl Zuschauer als auch Kritiker. Es ist unzweifelhaft Allens bester Film seit Jahren. Es wäre zu scha- de, wenn dies, wie von ihm angedeutet, sein letzter Film bliebe. (mag) AB 11. APRIL F 2023; 93 Min.; R: Woody Allen; D: Lou de Laâge, Valérie Lemercier, Melvil Poupaud ★★★★★ Foto: Majestic Andrea lässt sich scheiden Von wegen rauschende Felder und blühende Landschaften: In seiner zweiten Regiearbeit räumt der Wiener Kabarettist Josef Hader („Wilde Maus“) mit jeglicher Landlust-Romantik auf. Mit staubtrockenemWitz erzählt er von der aufrechten Polizistin An- drea (Birgit Minichmayr), die einfach nur noch weg will aus der niederösterreichischen Pampa. Weg von ihrem langweiligen Noch- Ehemann, von ihrem dauernörgelnden Vater und den saufenden Dörflern, die beim Feiern zwölf Flaschen Bier pro Kerl und sechs pro Frau einrechnen, weg aus der trüben Dorfdisco und von den schlechten Witzen. Steht Andrea gerade nicht mit ihrem Kollegen Georg (Thomas Schubert) und der Radarpistole an einer verlassenen Landstraße, ist sie damit beschäftigt, alles irgendwie zusammenzuhalten – und die Tage zu zählen, bis sie endlich ihre Stelle als Kriminal- kommissarin in St. Pölten antritt. In einer trostlosen Kleinstadt, die nur vom platten Land aus wie die große weite Welt wirkt. Hader, der das Drehbuch mitschrieb und eine Hauptrolle über- nahm, hat einen gestochen scharfen Blick für melancholische Details, für Kreisverkehre mit lächerlicher Kunst, für seelenlose Bahnhöfe und die immer gleichen, trostlosen Wege. Und er schreckt auch vor Katastrophen nicht zurück, die mitten in das bissig aufbereitete Landleben brechen. „Witze unter erschwerten Bedingungen“ nennt Hader das, was folgt, wenn Andrea nach einer Geburtstagsfeier auf der Land­ straße einen tödlichen Unfall verursacht und abhaut. Und als Hader selbst auftaucht, als ehemaliger Lehrer und trockener Alkoholi- ker Franz (Josef Hader), der mit seinem verwitterten Opel Corsa bald als Schuldiger ausgemacht ist und sich seinem Schicksal nach zahlreichen Gin Tonics fügt. Wie einen Cowboy habe er sich Andrea vorgestellt, sagte Hader auf der Berlinale, wo seine Krimi-Tragikomödie ihre umjubelte Premiere feierte. Schließlich sehe die niederösterreichische Pro- vinz ein wenig wie Nebraska aus und die Weite symbolisiere, das alles gesehen wird, was passiert. Eine Übersichtlichkeit, die sich auch auf das Leben dort übertragen lässt. Außer beim großen Jo- sef Hader natürlich, der von trüben Männern und von starken Frauen erzählt, die einmal mehr die Gelackmeierten sind. Und das nicht nur in der Provinz. (sd) AB 4. APRIL AT 2024; 93 Min.; R: Josef Hader; D: Birgit Minichmayr, Josef Hader, Thomas Schubert ★★★★★ FILM 25

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