hamburg:pur April 2024
FILM Foto: Jakub Bejnarowicz/Port au Prince/Schwarzweiss/Senator DRAMA Dem Ende ganz nah Matthias Glasners „Sterben“ mit Lars Eidinger und Corinna Harfouch in den Hauptrollen ist ein faszinierendes Drei-Stunden-Epos über eine dysfunktionale Familie ihren Selbsthass in Alkohol, einer Affäre mit ihrem verheirateten Chef Sebastian (Roland Zehrfeld) und hat einen Job gewählt, in dem sie von den meisten gehasst wird: Zahnarzt- assistentin. Glasner porträtiert diese dysfunktionale Fa- milie, angelegt an seine eigene, in mehreren Kapiteln, in denen er jeweils aus den verschie- denen Perspektiven erzählt. Dabei schafft er bei aller Schwere eine seltsame Leichtig- keit. Den demütigen Unzulänglichkeiten der kranken Eltern begegnet er ohne Scheu, die von Ellens Hustenanfall torpedierte Premiere des Musikwerkes inszeniert er mit Ruben-Öst- lund-Fremdschäm-Qualitäten. Ein großartiger, bewegender Film mit einem bemerkenswer- ten Cast, der trotz seiner Länge niemals lang- weilig wird. Text: Britta Schmeis AB 25. APRIL D 2024; 180 Min.; R: Matthias Glasner; D: Lars Eidinger, Corinna Har- fouch, Lilith Stangenberg ★★★★★ Es ist eine Szene, die kaum zu ertragen ist: An einem karg gedeckten Kaffeetisch sitzen sich Tom (Lars Eidinger) und seine Mutter Lissy (Co- rinna Harfouch) gegenüber. Mehr als 20 lange Minuten reden sie, redet vor allem Lissy, dass sie ihren Sohn nie geliebt hat, er einmal von der Wickelkommode gefallen ist, vielleicht hat sie ihn auch geworfen, und sie fortan Sorge hatte, er könnte bleibende Schäden davonge- tragen haben. Und Tommuss schmerzlich fest- stellen, dass er von seiner Mutter wohl nicht nur das musikalische Talent, sondern auch eine gewisse emotionale Kälte geerbt hat. Es ist eine der eindrücklichsten Szenen in Matthias Glasners Drei-Stunden-Werk, das auf der dies- jährigen Berlinale im Wettbewerb lief, aber definitiv nicht die einzige, in denen Glasner eine ungewöhnliche Balance zwischen Komik und Tragik gelingt. Tom ist ein erfolgreicher Dirigent in Berlin, der gerade mit einem jungen Orchester ein Mo- numentalstück seines depressiven Freundes Bernard (Robert Gwisdek) probt. Es heißt Ster- ben. Zudem ist er gerade sozialer Vater des Kindes seiner Ex-Freundin geworden. Seine Mutter Lissy kämpft im weit entfernten Nie- dersachsen mit der Demenz und Parkinson- Erkrankung ihres Mannes Gerd (Hans-Uwe Bauer) und dem eigenen Siechtum. Und Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) ertränkt hamburg:pur Aktion! Für die HH-Premiere des Films „Sterben“ mit Gästen am 19.4., 18 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „Sterben“ an verlosung@szene-hamburg.com ; Einsendeschluss: 16.4. 22 23 FILM One Life London, Dezember 1938: Der 29-jährige Börsenmakler Nicholas „Ni- cky“ Winton (Johnny Flynn) hört von Freunden, in welch hoffnungs- loser Lage sich jüdische Flüchtlinge in der Tschechoslowakei befinden. Statt zum Skifahren in die Schweiz reist er nach Prag. Das Elend ist erdrückend, die Truppen der Nazis rücken näher. Nicky will wenigstens die Kinder retten. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Zurück in London kämpft er verzweifelt um Visa, Aufenthaltsgenehmigungen, sucht Pflegefamilien. Die Behörden fordern 50 Pfund pro Kind als Unterhalts- garantie. Seine Mutter Babi Winton (hinreißend: Helena Bonham Car- ter) versteht sich auf den Umgang mit britischen Beamten: Wo Charme, Chuzpe und Überzeugungskraft nicht ausreichen, greift sie ungerührt zu emotionaler Erpressung. Acht Kindertransporte treffen in London ein, 669 jüdische Kinder werden vor dem Tod in den Gaskammern be- wahrt, ehe die Wehrmacht in die Tschechoslowakei einmarschiert. Fünfzig Jahre später quälen den fast 80-jährigen Nicky (nun gespielt vom grandiosen Anthony Hopkins) Schuldgefühle und Kummer. Hätte er nicht mehr Kinder retten können? ImGarten neben demSwimming- pool brennt ein riesiger Berg Akten, nur widerwillig trennt er sich von den Unterlagen. Was bleibt, ist ein Scrapbook mit Dokumenten aus jener Zeit, darin die Namen aller Flüchtlingskinder und ihre Foto- grafien. Die britische Fernsehsendung „That’s Life“ greift den Fall auf und holt 1988 den scheuen Nicholas Winton ins Rampenlicht. Da steht er, der schweigsam Introvertierte, der stets seine Gefühle verborgen hat, umringt von Dutzenden Menschen, die ihm danken wollen – für ihr Leben. TV-Regisseur James Hawes gibt seinem Kinodebüt etwas von der at- mosphärischen Spannung eines eleganten historischen Thrillers. Die Angst während der Grenzübertritte ist körperlich spürbar. Die Zeitebe- nen des Films überschneiden und vermischen sich in den Erinnerun- gen des Protagonisten. Der zweifache Oscar-Preisträger Sir Anthony Hopkins prägt „One Life“ und verwandelt das klassisch inszenierte Holocaust-Drama in eine sensible, intime Charakterstudie. (ag) AB 28. MÄRZ GB 2023; 110 Min.; R: James Hawes; D: Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter ★★★★★ Kleine schmutzige Briefe Social Media war noch Science-Fiction, als das britische Städtchen Littlehampton anno 1920 mit einem krassen Fall von „Hate Speech“ konfrontiert wurde. Ein anonymer Absender schickte persönliche Briefe an die Einwohner, in denen allerlei Unterleibs-Vokabeln zu blumigen Tourette-Schimpftiraden arrangiert wurden. Diese „Wicked Little Let- ters“ (so der Originaltitel) versetzten nicht nur Betroffene in Aufruhr, sie elektrisierten auch die Presse. Der Skandal lieferte den Zeitungen saftige Schlagzeilen, auch überregional. Der Film erzählt anhand des historisch verbrieften Stoffes die Ge- schichte zweier höchst unterschiedlicher Frauen: Edith Swan (Olivia Colman, wie immer zum Niederknien) lebt als lediges Nesthäkchen noch bei ihren Eltern und leidet unter ihrem tyrannischen Vater (Timo- thy Spall). Zu allemÜbel wird sie nun auch noch mit anrüchigen Briefen bombardiert. Ihre Nachbarin Rose Gooding (Jesse Buckley), irische Emigrantin und alleinerziehende Mutter, pfeift auf Konventionen. Im Foto: SquareOne Entertainment Foto: STUDIOCANAL örtlichen Pub mischt sie sich zumKampftrinken unter die Männer, wo- bei sie auch virtuos zu fluchen versteht. Klar, dass sie als Verdächtige herhalten muss. Als Familie Swan die Ordnungshüter alarmiert, betritt eine dritte Frau die Bühne: Gladys Moss (Anjana Vasan) hat als erster „Woman Police Officer“ der Stadt ebenfalls unter Ressentiments zu leiden. Dass sie indischer Abstammung ist, macht die Sache nicht leichter. Für ihre männlichen Vorgesetzten lediglich exotischer Zierrat, entpuppt sie sich als versierte Kriminalistin. Mit Sherlock-Skills jagt sie den wahren Schmierfinken, um zu verhindern, dass Rose unschul- dig eingesperrt und von ihrer kleinen Tochter getrennt wird. Regisseurin Thea Sharrock, bislang vor allem am Theater tätig, setzt bei allem ernsthaften Kommentar über Mobbing und Misogynie auf einen komödiantischen, mitunter gar albernen Ton. Dafür, dass ihr Film nicht ins Klamottige abdriftet, sorgt ein formidables Ensemble aus herrlich dämlichen Mannsbildern und wunderbar durchtriebenen Frauen. (cc) AB 28. MÄRZ GB 2023; 100 Min.; R: Thea Sharrock; D: Olivia Colman, Jessie Buckley, Anjana Vasan ★★★★★
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