hamburg:pur April 2023
Foto: Kerstin Schomburg THEATER Dieser Abend bringt ins Grübeln. Darüber, ob man nicht grundsätzlich wieder auf Bargeldzahlung umstellen sollte. Denn offenbar ist es demMitarbeiter eines Kreditkarten unternehmens möglich, das Leben eines prominenten Schauspielers zu rekonstruieren – anhand seiner Abbu chungen und jener seiner Frau. Was sich darüber hinaus noch an Lücken auftut, kann mit belauschten Gesprächen aufgefüllt werden, denn Promi und Stalker sind zufällig auch Nachbarn: Der Feind wohnt „Nebenan“. Diese groß artige Geschichte – aus der Bestsellerautor Daniel Kehl mann zusammen mit Schauspieler Daniel Brühl ein Film drehbuch machte – geht nun als deutsche Erstaufführung in der Regie von Hausherr Ulrich Waller über die Bühne des St. Pauli Theaters. Spielplatz: eine Berliner Kneipe, wo Oliver, der erfolgsverwöhnte Strahlemann aus dem Westen (Oliver Mommsen), auf den No Name Bruno (Ste phan Grossmann) trifft. Auf eine solche Gelegenheit hat der imOsten aufgewachsene und vom Leben gebeutelte Bruno nur gewartet: Genüsslich und in kleinen Dosen kon frontiert er den Überflieger mit pikanten Details aus des sen Leben, deckt Affären und Lügen auf und seziert schließlich auch noch dessen Missgriffe bei der Auswahl seiner bisherigen Filmrollen. Auf dem Sprung nach Lon don zu einemwichtigen Casting will der Schauspieler den lästigen Schwätzer zunächst einfach abschütteln, doch der sorgt mit größter Ruhe dafür, dass dem verhassten Nachbarn seine Vergangenheit langsam aber sicher um die Ohren fliegt. Über den persönlichen Rachefeldzug hinaus wird hier gekonnt exemplarisch thematisiert, wie es Opfer des Ausverkaufs von Berlin einerseits und den Wendegewinnern andererseits ergangen ist. In Wallers Inszenierung behält ein gekonnt eingesetzter Galgen humor trotz der dramatischen Handlung unterhaltsam die Oberhand. Von den pausenlosen 90 Minuten ist keine einzige zu viel. Text: Dagmar Ellen Fischer 1., 4.–9. APRIL; St. Pauli Theater Foto: G2 Baraniak Drei Frauen, drei Generationen, ein und dasselbe Pro blem: Wie können Kinder und Beruf unter einen Familien hut gebracht werden? Das beleuchtet die Uraufführung „Goldes Wert“ – der Titel verzichtet bewusst auf den An fang des alten Sprichworts, wo der Herd im Weg steht. Sprechwerk-Intendantin Konstanze Ullmer schrieb das Stück, inszenierte und musste am Premierenabend für jene erkrankte Schauspielerin einspringen, die imMittel punkt der Story steht: Martha, Ende 40, brach vor Jahr zehnten ihr Jurastudium ab, als sie schwanger wurde; heute fährt sie Taxi, um über die Runden zu kommen. Ein solches Schicksal möchte sie ihrer Tochter unbedingt ersparen, weshalb sie sich ungefragt vehement in deren Leben mit Mann und zwei Kindern einmischt: In ihrer Rolle als Oma erzählt sie den Enkeln zum Einschlafen das Mär chen von der Gleichberechtigung und lässt die beiden weinend und völlig aufgelöst zurück – sehr zum Ärger ihrer Tochter. Ähnlich kontrovers verlaufen die Streitge spräche zwischen Martha und ihrer verstorbenen Mutter, die sich in Marthas Vorstellung äußerst kreativ und an griffslustig aus dem Jenseits zu Wort meldet. Fragt sich die Protagonistin zu Beginn noch „Was habe ich falsch gemacht?“, so imaginiert sie im zweiten Teil des Abends eine Alternative: „Was hätte aus uns allen werden kön nen?“. In ihrem Gedankenexperiment dreht sie die Zeit zurück und fantasiert, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie anstelle ihres Ex-Manns Karriere gemacht hätte. Die sem Exkurs samt Schaubildern vom Statistischen Bun desamt folgt man zunächst gern als originellem und über raschendem Einfall, doch artet er zum zähen Vortrag aus. Das ist auch die Krux der Inszenierung: Der Abend ist ein fach zu lang, trotz des unterhaltsamen Textes, überra schender Regie-Ideen und drei Darstellerinnen, die ihre Sache gut machen. Text: Dagmar Ellen Fischer 31. MÄRZ, 1., 2., 5. APRIL; Sprechwerk GoldesWert Das Märchen von der Gleichbehandlung Nebenan Rachefeldzug des kleinen Mannes 20 THEATER Foto: Oliver Fantitsch Wenn sich ein Mann an Kindern vergehe, sei er kein Mensch mehr, nur noch ein Tier. Diese Auffassung ver- tritt Sergeant Johnson, seit 30 Jahren im Polizeidienst. Als er Baxter, demmutmaßlichen Vergewaltiger eines elf- jährigen Mädchens, gegenübersteht, entlädt sich seine geballte Wut auf die Welt: Er, der physisch Überlegene, attackiert den schmächtigen Verdächtigen körperlich der- art, dass dieser ins Krankenhaus gebracht werden muss. Der Polizist fürchtet sogar, dass er ihn umgebracht haben könnte, wie er seiner Frau bei der nächtlichen Heimkehr gesteht. So die Ausgangssituation für „Diese Geschichte von Ihnen“, einem spektakulären Drama von John Hop- kins, uraufgeführt 1968. Das Alter sieht man dem Stück in keiner Szene an, sind doch tödliche Polizeieinsätze und Gewalt im Namen des Staates in den USA immer noch Alltag. Männer wie Sergeant Johnson sind bis heute im Dienst: Sie haben zu viel Grauen gesehen, Blut, verspritzte Gehirne und tote Babys – um nur jene Beispiele zu nen- nen, die hier im Nebensatz zur Sprache kommen – um noch mitfühlend zu sein. Johnson (unfassbar gut verkör- pert von Ulrich Bähnk) ist ein Wrack und damit den von ihm gehassten Verbrechern verdammt ähnlich. Gestört Diese Geschichte von Ihnen Ein Thriller, der tief unter die Haut geht und frustriert, wie er ist, kommt weder seine Frau noch sein Vorgesetzter mit ihm klar, doch nur dem per- fekten Feindbild – dem ver- dächtigen, reichen Immobi- lienmakler Baxter – fühlt er sich überlegen. Als der sich über ihn lustig macht, bre- chen alle mühsam aufge- bauten Dämme. Die drei Akte des Abends sind so ge- baut, dass sich erst im letz- ten, als Rückblende gesetz- ten Akt nach der Pause der Zusammenhang erschließt. Regisseur Harald Weiler inszeniert mit seiner Wunsch- besetzung – Katharina Abt, Stephan Schad und Boris Aljinovic – einen sensationellen, tief unter die Haut ge- henden Thriller. Unbedingt anschauen, an einem Tag mit starken Nerven! Text: Dagmar Ellen Fischer 1.–3., 5.–11., 13.–15. APRIL; Ernst Deutsch Theater STARVEN IS OK NICH MEHR DAT, WAT DAT MAL WEER … KRIMIKOMÖDIE VON TATJANA KRUSE // 16.4. – 27.5.2023 Foto: Sinje Hasheider
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