hamburg:pur april 2022

Foto: Jonathon Cliff Ontario Inc., Films Quebec Inc. and Port Pictures Ltd. Foto: Red Rocket Productions, LLC Death of a Ladies’ Man College-Professor Samuel O’Shea (Gabriel Byrne) hat seine bes- ten Tage hinter sich. Der zweifach geschiedene, ehemalige Ladies’ Man erwischt seine derzeitige jüngere Lebensgefährtin in flag- ranti beim Sex mit einem langhaarigen jungen Burschen. Da hilft dem trinkfesten Poesie-Lehrer nur ein noch kräftiger Schluck aus der Pulle. Plötzlich beginnt er zu halluzinieren. Er verbringt einen Abend im Pub mit Frankenstein, spricht mit seinem längst ver- storbenen Vater (Brian Gleeson), sieht eine Kellnerin mit Löwen- kopf, speiende Drachen, die Montreal in Schutt und Asche speien – und sogar den Sensenmann persönlich. Diagnose: ein Karzinom im Kopf. Er habe maximal einige Monate zu leben. Zurück in sei- ner Heimat Irland denkt der Charmeur einstiger Tage wehmütig über sein Leben nach: seine Rolle als Liebhaber, Ehemann und Vater zweier Kinder. Ein letztes Mal will er sich verlieben – doch wie real ist eine solche Liebe auf Zeit? Was ist mit seinen Kindern in Kanada? Ist es zu spät, um noch eine Wende hinzubekommen? „Ein Film wie ein Song von Leonard Cohen“ urteilte CBC (Cana­ dian Broadcasting Corporation). Und tatsächlich ist der Film auch musikalisch von einigen Songs des 2016 verstorbenen kanadi- schen Musikers inspiriert und untermalt: „Like a bird on a wire, I have tried in my way to be free“ schallt es, von Kummer, Verzweif- lung und Liebe durchdrungen. Vor seinem Tod gab der Musiker dem Projekt seinen Segen und erlaubte die Verwendung seiner Stücke. Gabriel Byrne („Die üblichen Verdächtigen“) gelingt es, nach langer Kinoabstinenz, allein durch seine Mimik die Fülle eines ganzen Lebens einzufangen und zur Schau zu stellen. Dabei bleibt eine gut dosierte Situationskomik nicht aus. Dennoch hat der Film von Matt Bisonnette auch Schwächen. Immer wieder droht er, ins Klischeehafte zu fallen und schlendert auch mal über diese Gren- ze hinweg, zumBeispiel wenn eine Gruppe Anonymer Alkoholiker gemeinsam eine Gesangseinlage einlegt. Dennoch ist die Grund- botschaft des Films nicht zu verkennen: Die größte Fantasie ist wohl die des glücklichen Trinkers und des Frauenhelden. Für den Protagonisten kommt diese Erkenntnis allerdings zu spät. (mag) AB 7. APRIL CAN/IRL 2020; 101 Min.; R: Matt Bissonnette; D: Gabriel Byrne, Jessica Paré, Brian Gleeson ★★★ ★★ Red Rocket Schürfwunden im Gesicht und als Gepäck nur das, was er am Leibe trägt – so entsteigt Mikey Saber einem Greyhound-Bus. „Säbel“ ist sein phallisches Pseudonym und dezenter Hinweis darauf, dass er 20 Jahre lang imPorno-Biz von L.A. arbeitete. Doch seine „Boogie Nights“ sind vorbei. Zurück in seiner Heimatstadt Texas City, einem tristen Kaff zwischen brennenden Ölraffinerie- Schloten, bettelt er bei seiner Ex-Partnerin Lexi und ihrer Mutter um Asyl. Obschon abgerockt und ausgebrannt, hat der alternde Beau seinen jungenhaften Charme nicht verloren. Und so haben die Frauen alsbald einen neuen Untermieter. Der fährt nun auf Lexis Damenrad durch die Stadt und macht Akquise. Schon bald vertickt er Weed für einen alten Schulfreund, mäht zu Hause den Rasen und kann mit demGras-Erlös sogar die Miete zahlen. Doch in Mikey brodelt es: Eigentlich will er die zweite Karrierestufe zün- den und als „Adult Film“-Agent junge Talente managen. Dann trifft er Raylee, Spitzname „Strawberry“. Sie ist 17, sommersprossig, spaßhungrig und jobbt in einer Krapfenbude mit dem unheil- schwangeren Namen „Donut Hole“. Sie sieht in dem schnacken- den Charmeur die Chance, ihremHighschool-Alltag zu entfliehen. Er wittert in ihr das Ticket zurück nach Hollywood. Schwups ent- brennt zwischen beiden eine toxische Affäre … Sean Baker machte sich mit seinem Film „The Florida Project“ (2017) einen Namen als schonungsloser Chronist des Amerika unterhalb der Armutsgrenze. Seine Filme entwickeln bei aller Tris- tesse eine fast märchenhafte Poesie. Antiheld Mikey (umwerfend verkörpert von Ex-Model, Ex-MTV-VeeJay und Ex-Rapper Simon Rox) ist ein narzisstischer Prahlhans und komplett moralfreier Drecksack. Nicht umsonst verortet Baker seinen Film imUS-Wahl- kampfjahr 2016, wo ein weiterer notorischer Lügner in TV-Dau- erschleife läuft: Donald Trumps leere Versprechungen und scham- lose Manipulationen imitiert Mikey imKleinen. Trotzdem beleuch- tet Baker seinen „Peter Pan für Arme“ mit faszinierter, beinah zärtlicher Zuneigung. Es ist diese seltsame Ambivalenz, die „Red Rocket“ so unwiderstehlich macht. (cc) AB 14. APRIL USA 2021; 130 Min.; R: Sean Baker; D: Simon Rex, Bree Elrod, Suzanna Son ★★★★ ★ FILM 24 Foto: déjà-vu film Foto: capelight pictures/Mer Film Lingui Ein kleines Dorf im Tschad, eine staubig karge Landschaft, glei- ßendes Sonnenlicht, die Pro­ tagonistin, die mühsam Feuer- schalen aus alten Lkw-Reifen herstellt – es sind großartige Bilder, die der tschadische Re- gisseur Mahamat-Saleh Ha- roun mit seinem neuen Film aufbietet. Und doch geht es um etwas Universelles: den Kampf gegen unterdrückende Ge­ setze und die Bindung zwi- schen Mutter und Tochter. Diese gerät aus den Fugen, als die 15-jährige Maria (Rihane Khalil Alio) ihrer Mutter Amina (Achouackh Abakar Souley­ mane) gesteht, schwanger zu sein. Amina ist enttäuscht, glaubt ihre Tochter habe denselben Fehler gemacht wie sie einst selbst: demVater ihrer Tochter zu vertrauen, der sie während der Schwangerschaft verließ, woraufhin Amina von ihrer Familie verstoßen wurde und ihr Kind allein großziehen musste. Maria hingegen verkündet ihrer Mutter, sie wolle das Kind abtreiben. Das stürzt Amina in eine tiefe Krise. Sie ist hin- und hergerissen zwischen ihrem muslimischen Glauben, der eine Abtreibung nicht zulässt, und The Innocents Das Kind als unheimliche Präsenz im Thriller- und Horrorkino hat eine lange Tradition. Spätestens seit den Schockern „Der Exorzist“ und „Das Omen“, die beide in den 1970er-Jahren entstanden, gehört dieses Mo- tiv zum Kanon der Schreckensunterhaltung. Auch der Norweger Eskil Vogt nutzt die beunruhigende Vorstellung, kleine Menschen könnten böse Dinge imSchilde führen, in seiner zweiten abendfüllenden Regie- arbeit „The Innocents“, die außerdem Elemente des Superheldenfilms und des Sozialdramas verbindet. FILM dem Wunsch, ihrer Tochter eine bessere Zukunft zu er- möglichen. Immer wieder ver- spüren beide den Druck, sich den autoritären Vorstellungen ihres patriarchalen Umfelds zu beugen. Nachdem Maria aus Verzweiflung versucht, sich das Leben zu nehmen, versöhnen sich Mutter und Tochter. Amina beschließt, Maria zu helfen. Die beiden Frauen beginnen einen Kampf umGerechtigkeit und Selbst- bestimmung in einer Gesell- schaft, die ihnen keine Stim- me geben will. „Lingui“ ist ein bewegender Film über weibliche Solidari- tät, nicht nur zwischen den beiden Hauptfiguren, son- dern generell. Er zeigt eine bedingungslose Liebe, die weder durch Unterdrückung noch Gewalt zu brechen ist – im Gegenteil, es ist eine Liebe, die durch Oppression verstärkt wird. (as) AB 14. APRIL TSCHAD 2021; 87 Min.; R: Mahamat-Saleh Haroun; D: Achouackh Abakar Souleymane, Rihane Khalil Alio, Youssouf Djaoro ★★★★ ★ ImMittelpunkt steht mit der neunjährigen Ida (Rakel Lenora Fløttum) ein niedlich aussehendes Mädchen, das jedoch schon in den ersten Minuten ein durch- triebenes Verhalten an den Tag legt. Weil sie von ihren Eltern weniger Aufmerksamkeit bekommt, piesackt sie ihre autistische Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad), die sich weder wehren noch richtig mit- teilen kann. Nach einem Umzug in eine Hochhaus- siedlung lernt Ida den Nachbarsjungen Ben (Sam Ashraf) kennen, der sie in seine übernatürlichen Fä- higkeiten einweiht: Allein mit der Kraft seiner Gedan- ken kann er Gegenstände bewegen. Unterdessen freundet sich Anna mit der telepathisch veranlagten Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim) an und bringt auf einmal wieder verständliche Sätze heraus. Irgend- wann nimmt das Spiel mit den ungewöhnlichen Be- gabungen eine gefährliche Wendung. Bereits in „Thelma“, einem Mix aus Mysterythriller und Coming-of-Age-Drama, dessen Drehbuch Eskil Vogt mitverfasste, sind eskalierende Superkräfte Ausdruck von Ängsten und Schmerz. Ähnlich verhält es sich in „The Innocents“, auch wenn der Regisseur bewusst auf ex- plizite Erklärungen verzichtet. Hier und da wird deutlich, dass die häus- liche Situation einige Figuren schwer belastet und gewisse Handlungen befeuert. In seiner gemächlichen Erzählweise entfaltet der nicht ganz klischeefreie Film eine leise brodelnde Spannung und beweist, dass es für echte Gänsehautmomente keine Effektsalven braucht. Manch- mal genügen schon intensive Blicke aus Kinderaugen. (cd) AB 14. APRIL NOR 2021; 117 Min.; R: Eskil Vogt; D: Rakel Lenora Fløttum, Alva Brynsmo Ramstad, Sam Ashraf ★★★★ ★ 25

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