hamburg:pur april 2022
Foto: Neue Visionen Filmverleih Foto: Neue Visionen Filmverleih Wo in Paris die Sonne aufgeht Vorweg: Jacques Audiards neuer Film ist von berückender Schönheit. Dem 69-jährigen Meister des französischen Kinos stand nicht der Sinn nach der vertrauten Pariser Architektur: „zu museal, zu vordergründig, nicht genug Perspektiven“. Er ent- schied sich, immultiethnischen 13. Arrondissement und in wild poeti- schem Schwarz-Weiß zu drehen. Jene altmodisch anonymen Hoch- häuser der Siebzigerjahre strahlen plötzlich etwas Geheimvolles aus, die Kamera gleitet vorbei an den Fenstern, streift die Schicksale nur für Sekunden, konzentriert sich dann auf drei Frauen und einen Mann. Deren Wege kreuzen sich, sind mal weniger, mal mehr mitei- nander verwoben. Die vier sind zwischen Mitte 20 und Mitte 30, stecken in einer Sinn krise. Gleich, ob die Vorfahren aus Taiwan kommen oder der heimi- schen Provinz: Sie müssen sich selbst neu erfinden. Da ist Émilie (Lu- cie Zhang), die Jüngste, kratzbürstig, witzig und überempfindlich. Trotz Abschluss auf einer Eliteuni jobbt sie im Callcenter und fliegt selbst dort raus. Als Untermieter zieht Camille (Makita Samba) ein. Der smarte, von seinemBeruf desillusionierte Lehrer für Literatur genießt den Sex mit ihr, nur mehr ist nicht drin. Émilie gibt sich zwar cool, steht auf Tinder und Quickie in der Mittagspause, doch eigentlich sehnt sie sich nach Geborgenheit und der großen Liebe. AHero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani Was heißt Wahrheit in Zeiten von Instagram, Twitter, Facebook und TikTok? Wie ist es mit der Ehre eines Menschen bestellt, wenn diese von ebenjenen Bildern abhängt? Diesen Fragen stellt sich der zweifache Oscar-Preisträger Asghar Farhadi („The Salesman“) in seinem bewegenden Werk „A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani“, das 2021 in Cannes Premiere feierte und mit dem Jurypreis ausgezeichnet wurde. „Held“ in diesem Film ist der gerade für einige Tage aus dem Ge- fängnis entlassene Familienvater RahimSoltani (Amir Jadidi), des- FILM sen Freundin eine Tasche voller Gold findet. Statt die Schulden zu begleichen, derentwegen er ein- sitzt, gibt Rahim dieses der rechtmäßigen Besit- zerin zurück. Von der eigenen Familie und der Öffentlichkeit wird er zumHelden erklärt. Videos werden gedreht, Podiumsveranstaltungen abge- halten, eine Freilassung in Erwägung gezogen – was eine gute Tat alles bewirken kann! Endlich könnte er seine geheime Freundin heiraten und mehr Zeit mit seinemSohn verbringen. Doch dann kommen Ungereimtheiten ans Licht. Ist die gute Tat möglicherweise nur inszeniert? Wie bei seinen beiden mit demOscar ausgezeich- neten Filmen („Nader und Simin – Eine Trennung“ und „The Salesman“) greift Farhadi ein politisches Thema auf, um dieses anhand einer aus dem Le- ben gegriffenen Geschichte zu illustrieren – und erzielt auf diese Weise eine starke emotionale und zugleich gesellschaftspolitische Tiefe. Der Film ist von einer subti- len und aufwühlenden Spannung und Ungewissheit durchzogen, die sich bis in die letzte Minute zieht. Ein freundlicher, geradezu gütiger Vater, der vor seiner Familie und aller Öffentlichkeit um seine Ehre kämpft, von allen Seiten abhängig, machtlos den gesellschaftlichen Kräften und Mei- nungen ausgeliefert – das ist ergreifend und schaudernd zugleich. Hier geht es um die Ehre eines Menschen. Selten hat man diese so greifbar auf der Leinwand gespürt. Selten konnte man so fesselnd und aufwüh- lend erfahren, wie fragil diese sein kann. Absolut sehenswert. (mag) AB 31. MÄRZ IRAN/F 2021; 127 Min.; R: Asghar Farhadi; D: Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Fereshteh Sadrorafaii ★★★★ ★ Nora (Noémie Merlant) flieht vor einer toxischen Beziehung nach Pa- ris, will ihr Jurastudiumwieder aufnehmen, aber seit jener Disconacht, in der alle sie ob einer blonden Perücke für Porno-Idol Amber Sweet halten, wird die junge Frau an der Uni und in den sozialen Netzwerken ver- spottet. Sie bewirbt sich in dem klei- nen Maklerbüro, das Camille über- nommen hat. Gegen dessen Charme scheint Nora immun, beharrt auf Dis- tanz. Camille beginnt um die kühle, un- gelenke Schöne zu werben – vorbei die Lust auf ständig wechselnde Part- nerinnen. Nora macht sich derweil im Internet auf die Suche nach Cam-Girl Amber Sweet (Jehnny Beth). Das melancholische, amüsante Gene- rationsporträt basiert auf drei Graphic Novels des New Yorker Comic-Zeich- ners Adrian Tomine. „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ steckt voller Überra- schung und Twists. In der Tradition von Eric Rohmer dechiffriert Jacques Audiard („The Sisters Brothers“) die widersprüchlichen Gefühle, uneingestandenen Sehnsüchte. Ist die Unverbindlichkeit vielleicht nur die Angst vor demVersagen? Am Ende wird es die Magie der Sprache sein, die die Akteure aus ihrer Isolation erlöst … (ag) AB 7. APRIL F 2021; 106 Min.; R: Jacques Audiard; D: Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant ★★★★ ★ 22 Foto: Sami Kuokkanen Aamu Film Company Abteil Nr. 6 Eigentlich wollte die finnische Archäologiestudentin Laura (Seidi Haarla) gemeinsammit ihrer intellektuellen Moskauer Freundin Irina eine Zug- reise in das eisige, weit entfernte Murmansk am nördlichen Polarkreis wagen, um dort Petroglyphen zu bestaunen, berühmte historische Felsenmalereien. Da ihrer akademischen Liebhaberin aber etwas da- zwischen kommt, muss Laura die Reise alleine antreten. Als ob das nicht schon reicht, entpuppt sich Ljoha (Yuriy Borisov), ihr Reisenach- bar im Zugabteil Nr. 6, als ungehobelter, rücksichtsloser, trink-, rauch- und rauffreudiger Prolet. Anfangs noch angewidert, erkennt Laura mit der Zeit in dem einfachen Bergarbeiter eine zutiefst ehrliche und menschliche Seite, die sie von ihrer akademischen Welt nicht kennt, aber an ihr eigentliches Selbst erinnert. Der Beginn einer unerwarteten Annäherung … Regisseur Juho Kuosmanen („Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“) gelingt mit „Abteil Nr. 6“ ein intensives Reise- und Filmerlebnis. In seiner Stille, Nähe und Unberechenbarkeit erinnert „Abteil Nr. 6“ entfernt an Sofia Coppolas „Lost in Translation“. Das winterliche Russ- land der 1990er-Jahre, die Stille und Einsamkeit der prädigitalen Zeit, die Annäherung zweier Fremder über alle Kultur- und Klassengrenzen hinweg – all dies erscheint dieser Tage so unfassbar weit weg. Dieses schroffe, melancholische Werk, das von dem gleichnamigen Roman von Rosa Liksom inspiriert ist, besticht durch Ehrlichkeit und Mensch- lichkeit und wurde auf dem Filmfestival in Cannes 2021 auch mit dem FILM EIN PRODUKT DER Entdeckt und erschmeckt Hamburg! www.genusstouren-hamburg.de SMUTJES LANDGANG, 69€ ISEMARKT-TOUR Wir gehen mit euch über den berühmten Isemarkt. Wir klönen, schnacken und ver- kosten ein paar der Produkte. Zusätzlich zu den Verkostungen servieren wir euch Hamburger Küche in Form von 7 kleinen Gerichten. SMUTJES LANDGANG, 125€ MARKTHALLEN-TOUR Bevor die Kochschürze umgebunden wird, stürzt ihr euch gemeinsam in das bunte Hamburger Markt-Treiben. Mit unserem Guide umgeht ihr die ausgetretenen Pfade, um dann in der Kochschule die regional eingekauften Zutaten zu einem traditionellen Hamburger Gericht zu verarbeiten. UNSERE SPECIALS mit Profi-Koch Thomas Sampl powered by „Grand Prix“ ausgezeichnet. Weitere Nominierungen (etwa Europäi- scher Filmpreis, Indie Spirit Awards, Golden Globe) folgten und unter- streichen, dass es sich hier um ein mit bescheidenen Mitteln erstelltes Filmjuwel handelt. Unbedingt sehenswert. (mag) AB 31. MÄRZ FIN/EST/DEU/RUS 2021; 106 Min.; R: Juho Kuosma- nen; D: Seidi Haarla, Yuriy Borisov ★★★★ ★
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