hamburg:pur april 2022
Foto: Andreas Hoefer/Pandora Film FILM BIOGRAFISCHE MENSCHENRECHTSVERHANDLUNG Glaube an Freiheit und Gerechtigkeit Drehbuchautorin Laila Stieler und Regisseur Andreas Dresen inszenieren mit „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ emotional und liebevoll die bewegende Biografie von Rabiye Kurnaz, die gemeinsammit dem Anwalt Bernhard Docke für die Befreiung ihres Sohnes Murat kämpft keit mündet, aber die wichtige Frage nach Schuld und Rechenschaft aufrechterhält. Denn bis heute haben die realen Personen keine Entschädigung für die an ihnen begangenen Untaten erhalten. Bereits zum siebten Mal arbeiteten Drehbuchautorin Laila Stieler und Regisseur Andreas Dresen für dieses biografi sche Drama zusammen und ihr Erfolgsrezept scheint wieder einmal zu funktionieren. Mel temKaptan, mitreißend und emotional in ihrer ersten Hauptrolle, und Alexander Scheer, wan delbar wie immer, machen den realen Vor bildern mit ihrer hervorragenden schauspie lerischen Leistung alle Ehre. Die wunderbar komische Darstellung der Comedienne Kaptan erleichtert Leid und Schmerz der Handlung und lässt zum Schluss doch an so etwas wie Ge rechtigkeit glauben. Text: Anarhea Stoffel AB 28. APRIL D/F 2022; 119 Min; R: Andreas Dresen; D: Meltem Kaptan, Alexander Scheer ★★★★ ★ hamburg: pur Aktion! Für die HH-Premiere des Films „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ mit Regisseur Andreas Dresen am 22.4., 19 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 5 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „pur:Rabiye Kurnaz“ an verlosung@szene-hamburg.com ; Einsendeschluss: 15.4. Anfang 2001 verschwindet der älteste Sohn der türkisch-deutschen Hausfrau Rabiye Kur naz (MeltemKaptan). Rabiye erfährt, dass Mu rat auf einer Reise nach Pakistan am Flughafen festgenommen wurde. Sofort versucht sie, ihren Sohn nach Hause zu holen, wird jedoch von allen Instanzen, an die sie sich wendet, abgewiesen. Inzwischen sitzt Murat im berüch tigten US-Gefangenenlager Guantanamo. Ra biye ist sich des Ausmaßes des Falles nicht bewusst, doch ihre Naivität lässt sie hoffen. Sie beschließt, sich Hilfe von einemAnwalt zu holen und stößt auf Bernhard Docke (Alexan der Scheer). Der Menschenrechtsanwalt ver tritt die aufbrausende und temperamentvolle Mutter und bildet das ausgeglichen-rationale Pendant zu ihr. Fünf Jahre lang führt ihr Weg die beiden an jegliche staatlichen Institutionen heran, die allesamt die Verantwortung für den unschuldig inhaftierten Murat von sich weisen. Es ist ein nahezu aussichtsloser Kampf, der immer wieder in Erschöpfung und Machtlosig 20 21 Das Ereignis Frankreich, 1963: Anne (Anamaria Vartolomei) ist jung und vol- ler Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Die Literaturstudentin ist durch Talent und Fleiß auf demWeg zur Jahrgangsbesten. Doch dann erschleicht sie ein ungutes Gefühl: Ihre Periode bleibt aus, Schwäche- und Übelkeitsanfälle ereilen sie. Als sich ihre Be- fürchtung einer Schwangerschaft bewahrheitet, bleibt ihr keine Wahl: Das Kind auszutragen, bedeutete das sichere Ende ihres Studiums und so ist sie bereit, alles Erdenkliche auf sich zu neh- men, um den Embryo zu verlieren … Mit „Das Ereignis“ verfilmt Regisseurin Audrey Diwan den auto- biografischen Roman der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, in dem diese ihre eigene Abtreibungserfahrung als junge Frau verarbeitet. Mit einer schonungslosen Wahrhaftig- keit zeigt der FilmAnnes heimliches, gefährliches Bemühen um einen Schwangerschaftsabbruch. Der Zuschauer erfährt durch ihre Augen die Mechanismen einer Gesellschaft, in der Männer keine Verantwortung übernehmen und Frauen auf sich allein gestellt sind; eine Gesellschaft, die schwangeren Frauen weder Perspektiven aufzeigt, noch ihnen das Recht auf Abtreibung gewährt. „Das Ereignis“ gewann nicht ohne Grund den Hauptpreis in Ve- nedig 2021. Die erfrischende Hauptdarstellerin und ihre gleich- sam starke Figur sind fesselnd. Kameramann Laurent Tangy führt die Handkamera stets dicht an der Hauptfigur, quasi kon- gruent zu ihren Bewegungen. Das schmale Bildformat (1,37:1) stellt Anne auch visuell unmittelbar ins Zentrum. Annes Erleben ihrer Lust und ihres Schmerzes ist intensiv – und an einigen Stellen radikal, wenngleich zu keinem Zeitpunkt aufgebauscht. Der Film zeigt einen historisch bedingten Missstand in Bezug auf das Abtreibungsrecht. Die 1960er-Jahre spiegeln sich in Optik und Prämisse wieder, die Story wird jedoch perspektivisch modern erzählt. Dieser stilistische Umstand macht den Film zu einem zeitlosen Plädoyer für die körperliche Selbstbestimmung von Frauen – und das kommt vielleicht anlässlich der Debatte im Deutschen Bundestag um das Informationsverbot für Ab- treibungen genau zum richtigen Zeitpunkt. (mag) AB 31. MÄRZ F 2021; 100 Min.; R: Audrey Diwan; D: Anama- ria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Sandrine Bonnaire ★★★★★ Bis wir tot sind oder frei „Stürm ist unser Che“, ruft die engagierte Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) in ihrer Kanzlei, dem Zürcher Anwaltskol- lektiv, voll Enthusiasmus. Sie vertritt Linksautonome mit Nähe zur RAF, will Gerechtigkeit und Freiheit in den eidgenössischen Mief bringen, und sie sieht in Walter Stürm die Galionsfigur, die all ihre Ideale verkörpert. Stürm (Joel Basman) ist der verstoßene Sohn eines Schweizer Industriellen, der sich in den 1970er- und 1980er-Jahren einen Namen als Ausbrecherkönig erworben hatte. Nach Juwelendiebstählen, Banküberfällen und Autoschie- bereien war er immer wieder im Gefängnis gelandet und mit gleicher Regelmäßigkeit und mit gewitzter Unverfrorenheit wieder ausgebrochen. Was Hug nicht sieht: Ihr neuer charismatischer Mandant hängt keiner Ideologie an, ihm geht es einzig und allein um seine eigene Freiheit und Würde, die Befriedigung seiner Eitelkeit. Frei nach Reto Kohlers Biografie „Stürm – Das Gesicht des Aus- brecherkönigs“ hat der Schweizer Regisseur Oliver Rihs sein Biopic gedreht. Mit historischen Fernseh- und Zeitungsaus- schnitten verleiht er ihm die gebotene Authentizität. Seinen konzisen Blick aber richtet er auf Stürm (1942–1999) und Hug (1946–2005). Der eine ein selbstdarstellerischer Egomane und Berufskrimineller, der sich auch durch Isolationshaft nicht beu- gen lässt, die andere eine idealistische Altruistin. Hug ist nach einem falsch behandelten Nierentumor schwer behindert, ge- steht sich aber keinerlei Schwäche zu. Stürm gefällt sich als Pop-Star mit Outlaw-Glamour. „Freiheit kann man sich nur neh- men“, lautet seine Parole. Es sind zwei völlig unterschiedliche, jeweils schwer beschädigte Menschen, gefangen in sich selbst. Sie beide gehen bis an ihre Grenzen und darüber hinaus. Wobei Hug definitiv die traurigere Gestalt ist, die Leuenberger mit einer Intensität spielt, die schmerzt. Und doch bleiben die Figuren seltsam fremd. Es ist eine verstörende wie irrwitzige Geschich- te, die es sich unbedingt lohnt anzuschauen. (bs) AB 31. MÄRZ CH/D 2020; 118 Min.; R: Oliver Rihs; D: Marie Leuenberger, Joel Basman, Jella Haase ★★★ ★★ FILM Foto: Prokino Filmverleih Foto: Philippe Antonello/Port au Prince Pictures
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