hamburg:pur März 2024

Foto: Neue Visionen Filmverleih Foto: Majestic Die Herrlichkeit des Lebens Das Adjektiv „kafkaesk“ steht für das absurd Unheimliche, das schwer Greifbare. Die Rezeption seiner Werke färbt auch auf den Schriftsteller Franz Kafka ab. Er wird in der Literatur oft als in sich gekehrter Feingeist wahrgenommen, latent depressiv und mit Va- terkomplex. Die Romanverfilmung „Die Herrlichkeit des Lebens“ des Regie-Duos Georg Maas („Zwei Leben“) und Judith Kaufmann (Kamera „Das Lehrerzimmer“) zeichnet ein ganz anderes Bild eines positiven, humorvollen und sehr verliebten Menschen, für das es weder Kafka-Vorkenntnisse noch eines Germanistikstudiums be- darf. Im Inflationsjahr 1923 treffen der 40-jährige Franz Kafka (Sabin Tambrea) und die 15 Jahre jüngere Dora Diamant (Henriette Con- furius) am Strand des Ostseeheilbads Graal-Müritz aufeinander. Er versucht sich zu erholen, sie betreut eine Gruppe jüdischer Kinder im Ferienheim. Die Sommersonne färbt Sand und Himmel in High-Key-Ästhetik, alles ist leicht und unbeschwert. Zwischen Franz und Dora besteht von Anfang an eine starke Anziehungs- kraft, obwohl beide wie Gegensätze wirken. Sie strotzt vor Le- MariaMontessori Die italienische Ärztin Maria Montessori entwickelte ab 1907 ein Bildungskonzept, das stärker als zuvor die frühkindliche Entwick- lung in der Bildung in den Blick nahm. Montessori betrachtete das Kind als „Baumeister seines Selbst“ und verwendete eine Form des offenen Unterrichts in einer vorbereiteten Lernumgebung, um diese natürliche Entwicklung zu ermöglichen. Eine Verfilmung dieser außergewöhnlichen Bildungsikone war letztlich nur eine Frage der Zeit. Nun kommt mit „Maria Montessori“ ein entspre- chender Film in die Kinos. Italien, um 1900: Die unverheiratete Ärztin Maria Montessori (Jas- mine Trinca) lässt ihren Sohn Mario bei einer Pflegefamilie, um als moderne Frau in einer von Männern dominierten Welt Karriere zu machen – und ihre Vision von Bildung zu entwickeln. Im von ihr gegründeten Institut werden Lehrer für die Arbeit mit behinder- ten Kindern ausgebildet. Sie ist überzeugt: Freiheit und Aufmerk- samkeit statt Disziplinierung sind das Mittel der Wahl. Solange man die Kinder liebt, können sie alles lernen. Ein Selbstgänger ist Marias Reformpädagogik nicht: Keiner aus der Wissenschafts- elite glaubt zunächst, dass man „Idioten“ etwas beibringen könnte; die Lorbeeren heimst ihr Partner Giuseppe Montesano (Rafaelle Sonneville-Caby) ein, der Maria unbedingt heiraten möchte; zu- dem wird sie als Frau für ihre Arbeit nicht bezahlt. Verständnis und Unterstützung erhält sie von der charmanten und verführe- rischen jungen Französin Lili d’Alengy (Leïla Bekhti), die ihre geis- tig behinderte Tochter Tina in die von Montessori gegründete Schule nach Rom bringt … „Maria Montessori“ ist ein solides filmisches Debut. Die franzö- sische Regisseurin Léa Todorov inszeniert die Biografie dieser außergewöhnlichen Pädagogin in ihremSpielfilmdebüt mit Fein- gefühl und überzeugenden Bildern. Es dauert zwar ein wenig, ehe die beiden Protagonistinnen zusammenfinden und die Story sich entfaltet, doch dann bietet diese einige sehenswerte Momente. Richtige Spannung kommt dabei zwar nicht auf, sie fehlt aber auch nicht wirklich, da die Kameraarbeit, das Set-Design, die Kos- tüme sowie die Darstellung stimmig wirken. (mag) AB 7. MÄRZ F 2023; 100 Min.; R: Léa Todorov; D: Jasmine Trinca, Leïla Bekhti, Rafaelle Sonneville-Caby ★★★★★ FILM hamburg:pur Aktion! Für die HH-Premiere des Films „Die Herrlichkeit des Lebens“ mit Hauptdarstellern am 7.3., 20 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „Die Herrlichkeit des Lebens“ an verlosung@szene-hamburg.com ; Einsendeschluss: 5.3. benskraft, weil es ihr gelungen ist, dem strengen jüdisch-ortho- doxen, polnischen Elternhaus zu entfliehen und sich ein unab- hängiges Leben in Berlin aufzubauen. Davon träumt auch Franz, doch dem an Tuberkulose erkrankten Schriftsteller ist es nie rich- tig gelungen, sich von der Familie in Prag abzunabeln. Zusammen mit Dora wagt er diesen Schritt und mietet eine Wohnung in Ber- lin. Doch mit dem Einbruch des kalten Winters verschlechtert sich auch Franz’ gesundheitlicher Zustand. Den Liebenden bleiben nur noch wenige Monate … „Die Herrlichkeit des Lebens“ ist weniger ein Biopic als die Ge- schichte eines verliebten Paares, das ungeachtet einer ausweg- losen Situation jeden gemeinsamen Moment in vollen Zügen aus- kostet. Von Rührseligkeit keine Spur. Stattdessen wird die Bezie- hung mal anmutig, mal poetisch dargestellt, etwa in den Szenen in der Berliner Wohnung, wo die abstrakte Bildgestaltung fast schon etwas Gemäldeartiges erschafft. Und so funktioniert sie auch losgelöst vom Zwanzigerjahre-Zeitgeist. Kafka-Fans kom- men dabei trotzdem durch diverse Zitate auf ihre Kosten. (sis) AB 14. MÄRZ D, AT 2024; 98 Min.; R: Georg Maas, Judith Kauf- mann; D: Henriette Confurius, Sabin Tambrea, Manuel Rubey ★★★★★ 24 Foto: Wild Bunch Germany/Plaion Pictures Die Unschuld Die alleinerziehende Mutter Saori (Sakura Ando) merkt, dass ihr Sohn Minato (Soya Kurokawa) sich zunehmend zurückzieht. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt. Schon bald vermutet sie, dass Minatos Lehrer Herr Hori (Eita Nagayama) die Ursache sein und ihren Sohn geschlagen haben könnte. Aufgewühlt stürmt sie in die Schule und verlangt Antworten. Doch die Schuldirektorin (Yuko Tanaka) und das Kollegium sind wie versteinert und reden von einem Missverständnis. Widerwillig entschuldigt sich Herr Hori für die angebliche Tätlichkeit. Doch ist das die Wahrheit? Erst nach und nach wird offenbar, was wirklich geschah. Die Erkennt- nisse verändern das Leben aller Beteiligten für immer … Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda („Broker“) gilt als Ausnahmefilmemacher, als japanischer Steven Spielberg. Bereits für seinen Film „Shoplifters – Familienbande“ wurde er in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Sein neuestes Werk „Die Unschuld“ ist seine bislang größte und ambitionierteste Arbeit. Es ist eine bewegende Geschichte über Freundschaft, Verbun- denheit, Vertrauen, Liebe und Furcht. Eine Geschichte zwischen zwei Jungen, deren Freundschaft nicht die ist, die sie zunächst zu sein scheint. Gezeigt wird diese Geschichte dreimal – aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Zunächst aus Sicht der beschul- digenden Mutter, dann aus Sicht des beschuldigten Lehrers und schließlich aus Sicht des Jungen und seines Schulkameraden Yori (Hinata Hiiragi). Der Film zeigt damit auf beeindruckende Weise auf, dass es immer mehrerer Sichtweisen bedarf, um sich der Wahrheit zu nähern. „Die Unschuld“ ist hinreißend erzählt und musikalisch vom Oscar-Gewinner und im März 2023 verstorbe- nen Ryuichi Sakamoto wunderbar untermalt. Der Film überzeugt durch herzerwärmende Ruhe und Könnerschaft. Der Zuschauer erlangt nicht nur Klarheit, sondern auch eine nachhaltige Erkennt- nis: Voreilige Schlüsse zu ziehen ist zwar verführerisch einfach, doch nicht selten eine Einladung dazu, sich zu irren. (mag) AB 21. MÄRZ JAP 2023; 126 Minuten R: Hirokazu Kore-eda.; D: Sakura Ando, Eita Nagayama, Soya Kurokawa ★★★★★ Foto: Grandfilm/Chaz Productions Rückkehr nach Korsika Manchmal lösen Filme bereits Diskussionen aus, bevor sie veröf- fentlicht wurden. „Rückkehr nach Korsika“ erhielt 2023 zunächst eine Einladung in den Wettbewerb von Cannes. Nach Berichten über schlechte Arbeitsbedingungen und übergriffige Situationen amSet wurde Catherine Corsinis Familiendrama kurz vor Bekannt- gabe des Programms allerdings zurückgestellt. Da das Festival die Anschuldigungen als eine bösartige Kampagne einstufte, feierte der Film an der Croisette dann aber doch noch seine Premiere. Wenig verwunderlich, dass kritische Stimmen trotzdemnicht ver- stummten. Immerhin verstießen die Filmemacher nachweislich in mindestens einem Punkt gegen festgeschriebene Regeln. Bei all der Aufregung ist es schwierig, nüchtern auf das vollendete Werk zu schauen. Corsinis neue Regiearbeit handelt von Khédid- ja (Aïssatou Diallo Sagna), einer Frau mit afrikanischen Wurzeln, und ihren Töchtern Jessica (Suzy Bemba) und Farah (Esther Go- hourou), die den Sommer mit ihrer Mutter auf Korsika verbringen, weil diese die Kinder einer wohlhabenden Familie betreuen soll. Für die drei ist es eine besondere Rückkehr. Denn 15 Jahre zuvor hatten sie die Insel, ihr damaliges Zuhause, unter tragischen Um- ständen verlassen. Unterschiedliche Lebenseinstellungen und die Lügen der Vergangenheit belasten nun den Aufenthalt. Der vor allem aus der Perspektive der beiden Teenager erzählte Filmwirkt in der Ballung seiner Probleme überkonstruiert und löst die Spannungen amEnde etwas zu gefällig auf. Emotionale Inten- sität entwickelt er aber vor allem dank Suzy Bemba und Esther Gohourou, die ihre Figuren ausdrucksstark verkörpern. Einerseits scheint in ihrem natürlichen Spiel Nähe durch. Andererseits ver- mittelt es überzeugend den Graben zwischen den so gegensätz- lichen Schwestern. Reizvoll auch, dass in die luftig-sonnendurch- fluteten Bilder immer wieder Alltagsrassismus und Klassenfragen eindringen. Den Schatten der Berichte können die Stärken indes nicht verscheuchen. (cd) AB 14. MÄRZ F 2023; 106 Min.; R: Catherine Corsini; D: Aïssatou Diallo Sagna, Suzy Bemba, Esther Gohourou ★★★★★ FILM 25

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