hamburg:pur März 2024
FILM Foto: Leonine Studios Der Holocaust ist bereits einige Male verfilmt worden. Selten gelang es, das Grauen der Kon- zentrationslager (KZ) angemessen in Bilder zu fassen – mit wenigen Ausnahmen wie bei- spielsweise „Schindlers Liste“ oder „Die Grau- zone“. Regisseur Jonathan Glazer („Sexy Beast“) wählt, auf Basis des gleichnamigen Buches des verstorbenen Autoren Martin Amis, einen anderen, so noch nicht gesehenen An- satz. Gezeigt wird bloß die Welt der Täter – und Hedwig (Sandra Hüller) zeigt dem Nachwuchs stolz ihren Garten Eine Bilderbuchfamilie in direkter Nachbarschaft zum Konzentrationslager Auschwitz? In „The Zone of Interest“, mit Sandra Hüller in einer der Haupt rollen, zeigt Regisseur Jonathan Glazer („The Fall“), wie mörderisch das Wegsehen und -hören sein kann DRAMA Tödliche Ignoranz 22 23 FILM Foto: Working Title / Focus Features Drive-Away Dolls In einer schmuddeligen Bar klammert sich ein Mann an einen Akten- koffer. Dessen Inhalt scheint Begehrlichkeiten zu wecken, denn so- gleich jagen ihn grimmige Gestalten aus dem Etablissement. Einer der Häscher hat eine Säge dabei, grausige Schreie schallen aus einer dunk- len Gasse. Ethan Coen gibt in seinem ersten Solo-Film vom Start weg Vollgas. Nach der makabren Eröffnung liegt der Fokus auf zwei Frauen: Jamie (Margaret Qualley), ein fröhlich vögelnder Freigeist, ist der One- Night-Stands überdrüssig und sehnt sich nach einem Neustart. Auf einem improvisierten Roadtrip nach Florida wird sie von ihrer Freundin Marian (Geraldine Viswanathan) begleitet. Zwischen beiden funkt es, nur muss die zugeknöpfte Marian erst noch rausfinden, dass sie queer ist. Im Mietwagen-Büro gab es indes eine folgenschwere Verwechs- lung: Ohne es zu ahnen, haben die Frauen den ominösen Koffer an Bord! Klar, dass die üblen Typen vom Anfang sich nun an ihre Fersen heften. „Drive-Away Dolls“ ist eine zwar tight choreografierte, letztlich aber recht substanzlose Verfolgungsjagd in B-Movie-Ästhetik. Die ver- ästelten, vielschichtigen Plots früherer Coen-Brüder-Geniestreiche sucht man hier leider ebenso vergeblich wie deren unverwechselbare Optik. Zudem fehlt den beiden Hauptdarstellerinnen die rechte Che- mie, was die sich anbahnende Romanze etwas blutleer wirken lässt. Viele überdrehte Bettszenen, oft eher cringe als sexy inszeniert, kön- FILM zwar in direkter Nachbarschaft zum Ort des Grauens. Rudolf Höß (Christian Friedel), Kommandant des KZ Auschwitz, lebt gemeinsammit seiner Frau Hedwig (Sandra Hüller) ein privilegiertes Leben. Ihr Bilderbuch-Heim liegt in unmittel- barer Nähe zumKonzentrationslager, getrennt bloß von einer Mauer mit Stacheldraht. Das Haus gleicht einem nationalsozialistischen Puppenhaus: in schlichten braunen und grauen Tönen gehalten, spartanisch im Stil, leer an Menschlichkeit. Lediglich der Garten, den Hed- wig voller Hingabe anlegt und pflegt, zeigt eine farbenfrohe Pracht. Gemeinsammit ihren Kin- dern und zeitweise mit der Schwiegermutter leben die beiden parallel zu den Menschen in den Konzentrationslagern – als wäre nichts dabei. ImHintergrund sind permanent die Ge- räusche der Todesmaschinerie zu hören: Be- fehle, Schreie, Bellen, Pferde, Schüsse und ein nie enden wollendes Dröhnen – die Todesfuge in Dauerschleife. Man muss schon großzügig weghören und wegsehen, um diese bedroh- liche Kulisse hinter der Mauer nicht wahrzu- nehmen: den Rauch der einfahrenden Züge über der Gartenidylle, die Asche der Toten aus dem Schornstein. Um ihr Familienleben auf- rechtzuerhalten, wird Hedwig zur inhumanen Ignorantin. Während ihr Mann Menschen ver- sklavt, tötet und damit Karriere macht, sorgt sie sich bloß um das Haus und den Garten. Schockiert ist sie erst, als ihr Mann, umweiter Karriere zu machen, umziehen möchte … „The Zone of Interest“ ist ein faszinierender, unbehaglicher Film. Ein Familiendrama vor schaurigemHintergrund. Geschickt lässt Gla- zer in diese Welt mit langen, statischen Auf- nahmen eintauchen. Man sieht die Familie beim Baden, beim Essen, beim Teetrinken, beim Blumengießen, beim Ins-Bett-Gehen. Schnell wird klar: „The Zone of Interest“ ist die filmgewordene „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt). Keine Dämonisierung, vielmehr eine Demaskierung des Grauens, die insbesonde- re in der Endszene offenbar wird. Ein Film zum Wachrütteln, der zur rechten Zeit in die Kinos kommt und fünffach Oscar-nominiert ist (unter anderem als Bester Film und für die Beste Regie). Text: Marco Arellano Gomes AB 29. FEBRUAR USA, GB, PL 2023; 106 Min.; R: Jonathan Glazer; D: Christian Friedel, Sandra Hüller, Johann Karthaus ★★★★★ nen das Problem nicht übertünchen. Schade, denn Coens Film hat durchaus seine Momente, etwa wenn er in psychedelischen Intermez- zos der jüngst verstorbenen Künstlerin Cynthia Plaster Caster huldigt. Die verewigte in den Sechzigern die besten Stücke diverser Rockgrö- ßen als Plastik-Abgüsse (kleiner Hinweis auf den Koffer-Inhalt) und wird hier von Miley Cyrus verkörpert. Doch irgendwie ergibt die Summe der Teile kein überzeugendes Ganzes. Nach Bruder Joels arg kunst- beflissenemShakespeare-Schinken „The Tragedy of Macbeth“ (2021) muss man leider erneut konstatieren: „Ein Coen allein macht (noch) keinen Sommer“. (cc) AB 7. MÄRZ GB, USA 2024; 84 Min.; R: Ethan Coen; D: Margaret Qualley, Geraldine Viswanathan, Beanie Feldstein ★★★★★
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