Hamburg Pur 03/2022
FILM Foto: Grandfilm Foto: Happy Entertainment Aheds Knie „Aheds Knie“ habe schon existiert, bevor er das Drehbuch schrieb, sagte der in Israel geborene Regisseur Nadav Lapid über seinen neuen Film, der Premiere in Cannes feierte. Es ist sein erster Film nach „Synonymes“, der ihm 2019 zu seinem internationalen Durchbruch verhalf. X (Avshalom Pollak) ist gerade mit den Arbeiten zu seinem aktuellen Filmprojekt über die paläs- tinensische Aktivistin Ahed Namimi beschäftigt, als er eingeladen wird, in einemDorf inmitten der Wüste von Arava einen seiner Filme zu zeigen – initiiert von einer jungen, kunstbegeisterten Be- amtin der israelischen Kulturbehörde. Unmittel- bar bei seiner Ankunft eröffnet diese ihm, er müs- se ein Formular unterschreiben, in dem er sich verbürgt, bei der Veranstaltung nur über ausge- wählte Themen zu sprechen. Die junge Frau tauscht unvorsichtig staatskritische Gedanken mit ihm aus, nicht wissend, dass X schon bald – auf ihre Kosten – einen hasserfüllten, verbissenen Kampf gegen die staatliche Zensur beginnt. Erneut erzählt Lapid eine autofiktionale Geschichte: Vor einigen Jahren sah er sich mit ebenjener Form von Zensur konfrontiert, entschied sich jedoch für einen anderen Weg als X. Sein Antiheld ist ein wütender, selten einfühlsamer Einzelgänger – letztlich ist unklar, wen oder was er hier eigentlich zu bekämpfen versucht. Wer ist Täter und wer Opfer von staatlicher Zensur? Mit „Synonymes“ hat Nadav Lapid sowohl sein zwiegespaltenes Verhältnis zu seiner Heimat Israel zum Ausdruck gebracht als auch seine visuelle und narrative Handschrift etabliert. Beides deren erwachsener Sohn abends betrunken einen tödlichen Auto- unfall verursacht. Der Sohn hofft auf die Unterstützung seines einflussreichen Vaters, doch stattdessen kommt es zum offenen Bruch der Familie. Die zweite Geschichte zeigt den Familienvater Lucio (Riccardo Scamarcio), der von der Angst besessen ist, dass sein älterer, leicht dementer Nachbar möglicherweise seine Toch- ter missbraucht haben könnte, und auf der Suche nach der Wahr- heit selbst moralische Grenzen überschreitet. Die dritte Geschich- te handelt von der jungen Mutter Monica (Alba Rohrwacher), die mit ihremBaby allein lebt, während ihr Mann auf Geschäftsreisen ist. In ihrer Einsamkeit und Verzweiflung verliert sie zunehmend den Sinn für Realität. Als ihr – aufgrund dubioser Geschäfte – ge- suchter Schwager Roberto auftaucht und um ihre Hilfe bittet, fühlt sie sich zu ihm hingezogen … Obwohl die zugrunde liegenden Konflikte und Probleme samt Ängsten, Befürchtungen, Erwartungen und Fehlentscheidungen, durchaus Allgemeingültigkeit haben, gelingt es Moretti nicht, diese packend zum Ausdruck zu bringen. Der Film wirkt durch die drei parallelen Erzählebenen überfrachtet und zusammenhanglos. So plätschert jede Story vor sich hin und lebt vorrangig von den darstellerischen Fähigkeiten. Eine emotionale Bindung zu diesen entsteht leider kaum. (mag) AB 17. MÄRZ I, F 2021; 117 Min.; R: Nanni Moretti; D: Marghe- rita Buy, Riccardo Scamarcio, Alba Rohrwacher ★★ ★★★ Drei Etagen Regisseur Nanni Moretti ist für seine bissigen, gesellschaftskri- tischen Filme („Der Italiener“) bekannt, an dessen Drehbücher er meist mitwirkte. Umso überraschender, dass er nun mit „Drei Eta- gen“ seine erste Romanverfilmung wagt. Vorlage für die Handlung war das Werk „Über uns“ des israelischen Schriftstellers Eshkol Nevo. Der Film erzählt die Geschichten von auf drei Etagen verteilten Bewohnern eines Mehrfamilienhauses in Rom. Zum einen sind dies der Richter Vittorio (Nanni Moretti) und Dora (Margherita Buy), findet man in „Aheds Knie“ wieder. Lapid ist zweifelsfrei ein Au- torenfilmer: Er bricht mit Sehgewohnheiten, die Dynamik seiner Bilder ist essayistisch und radikal. Unruhige, extreme Nahauf- nahmen nehmen dem Zuschauer immer wieder jedwede Orien- tierung, was zugegeben auch anstrengend sein kann. Doch dann erlaubt er seinen Zuschauern ganz unverhofft, inmitten der Mi- sere auch mal aufzuatmen und zu schmunzeln, wenn während der Fahrt durch die endlose Wüste Bill Withers’ warme Stimme aus demAutoradio schallt und leidenschaftlich falsch mitgesummt wird. (rk) AB 17. MÄRZ IL/D/F 2021; 109 Min.; R: Nadav Lapid; D: Avshalom Pollak, Nur Fibak, Yoram Honig ★★★★ ★ 24 FILM Foto: A24 / Tobin Yelland Foto: Alamode Film Petite Maman – Als wir Kinder waren Internationale Bekanntheit erlangte die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Céline Sciamma spätestens mit ihrem his torischen Liebesdrama „Porträt einer jungen Frau in Flammen“. Nach seiner Uraufführung 2019 in Cannes erntete der Film um eine Malerin und eine Adelige, die sich im 18. Jahrhundert inein ander verlieben, fast durchweg begeisterte Kritiken und sammelte später zahlreiche Preise ein. Ein Siegeszug, der auch zu einer Be lastung hätte werden können. Mit ihrem nächsten Werk „Petite Maman – Als wir Kinder waren“ beweist Sciamma jedoch nach drücklich, dass sie zu den spannendsten Stimmen im europäi schen Gegenwartskino gehört. Dieses Mal wendet sich die Filmemacherin einer Familienge schichte mit einer fantastischen Note zu: Der Tod ihrer Oma führt die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz) mit ihren Eltern in das Haus der Verstorbenen, das leer geräumt werden muss. Als ihre be drückte Mutter Marion (Nina Meurisse) Hals über Kopf abreist, trifft Nelly imWald auf ein gleichaltriges Mädchen (Gabrielle Sanz), das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist und noch dazu den Namen ihrer Mama trägt. Bei einem Besuch im Haus ihrer neuen Freundin erkennt Nelly, dass sie in der Vergangenheit gelandet ist und ihrer Mutter im Kindesalter gegenübersteht. Sciammas fünfte Regiearbeit ist ein kleiner, eher kurzer Film, ent faltet durch seine Zeitreise aber eine reizvolle Magie. Zentrale Themen sind der Abschied von geliebten Menschen und der kind liche Wunsch, hinter die Fassade der Eltern blicken zu können. Nelly fühlt sich in gewisser Weise verantwortlich für die Traurig keit der erwachsenen Marion und erhält in den Gesprächen mit der kleinen Version ihrer Mutter die Chance, mehr über sie zu er fahren. „Petite Maman – Als wir Kinder waren“ erreicht zwar nicht die emotionale Kraft von „Porträt einer jungen Frau in Flammen“. Erneut besticht Sciamma allerdings mit einer wohltuend unauf geregten, nah bei den Figuren bleibenden Inszenierung und aus drucksstarken Bildern. (cd) AB 17. MÄRZ F 2021; 73 Min.; Regie: Céline Sciamma; Mit Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz, Nina Meurisse ★★★★ ★ Come on Come on Der New Yorker Radiomoderator Johnny (Joaquin Phoenix) hat eine lange Beziehung hinter sich und konzentriert sich voll auf seine Arbeit. Während er für ein Projekt durch die Staaten reist, um Kinder nach ihren Träumen, Ängsten und Hoffnungen zu be fragen, erhält er einen Anruf von seiner Schwester Viv (Gaby Hoff mann), die ihn darum bittet, einige Tage mit ihrem Sohn Jesse (Woody Norman) zu verbringen, damit sie sich um ihren an Schi zophrenie erkrankten Mann kümmern kann. Johnny willigt ein, auch wenn er keine Erfahrung damit hat, Verantwortung für ein neunjähriges Kind zu übernehmen. Jesse ist erstmals für längere Zeit von seiner Mutter getrennt. Auf einem Roadtrip quer durch die USA bis nach New York kommen sich die beiden Schritt für Schritt näher. Die anfängliche Unbeholfenheit und Überforderung beider weicht einer Neugier, aus der eine vertrauensvolle Bindung erwächst, die durch Offenheit, Ehrlichkeit und Zuneigung gekenn zeichnet ist. Es entsteht eine tiefe Verbindung zwischen Onkel und Neffe – durch die sie neue Facetten an sich selbst entdecken. Regisseur und Drehbuchautor Mike Mills („Jahrhundertfrauen“) gelingt mit „Come on Come on“ ein schöner, ruhiger, hoffnungs voll stimmender Film, der von den Gesprächen mit seinem eige nen Sohn inspiriert ist. Die wohldosierten und klug die Kontraste illustrierenden Schwarz-Weiß-Bilder, die stimmungsvolle Film musik und die natürlichen Darstellungen von Ausnahmeschau spieler Joaquin Phoenix und Jungdarsteller Woody Norman ma chen es leicht, der Reise zu folgen. Geschickt werden passende essayistische Texte im Film eingebaut, die den Gefühlen, die sich auf der Leinwand offenbaren, die passenden Worte geben. Eine Reise voller Menschlichkeit und ein Film, der zum Nachdenken anregt – über sich und das eigene Leben. (mag) AB 24. MÄRZ USA 2021; 109 Min.; R: Mike Mills; D: Joaquin Phoenix, Gaby Hoffmann, Woody Norman ★★★★ ★ 25
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