Hamburg Pur 03/2022
Foto: Lucky Number Inc. FILM The Card Counter Robert De Niro als „Taxi Driver“ (1976) und „Raging Bull“ (1980) in den Martin-Scorsese-Klassikern, und nun, fast ein halbes Jahr- hundert später, Oscar Isaac als traumatisierter Casino-Nomade: Die Drehbücher von Hollywood-Legende Paul Schrader kreisen immer wieder um tickende männliche Zeitbomben. Inzwischen führt er selbst Regie, doch auch Scorsese ist noch an seiner Seite, in diesem Fall als ausführender Produzent. Der „Card Counter“ ist ein weiterer „angry lone wolf“ in Schraders Figuren-Galerie: William Tell (Oscar Isaac) erlernte während einer achtjährigen Haft- strafe die komplexe Technik des „Kartenzählens“, mittels der man Black Jack-Spiele vorausberechnen kann. Mit dieser Superpower tingelt er von Casino zu Casino, immer umgeben vom gleichen tristen Interieur: Spieltische, Bars und Pokerfaces auf scheußlich gemusterter Auslegeware. Bezieht Tell ein neues Motel, frönt er einer seltsamen Routine: Er verpackt – Christo lässt grüßen – das gesamte Mobiliar akkurat in weiße Stofflaken. Reminiszenz an die Monotonie seiner Zelle? Ausdruck der Sehnsucht nach innerer Reinheit? Das Spielhallen-Phantom gibt Rätsel auf. Irgendwann läuft ihm Cirk (Tye Sheridan) über den Weg. Der junge Mann ist der Sohn eines einstigen Militärkameraden Tells und weiß, wel- cher blutigen Hölle dieser entstammt. Cirk versucht Tell in einen Rachefeldzug für seinen verstorbenen Vater zu involvieren, des- sen Ziel ein schnauzbärtiger Kommandant namens John Gordo (Willem Dafoe) ist. Schon bevor er nämlich selbst hinter Gitter kam, war ein Gefängnis Tells Lebensmittelpunkt: das berüchtigte Folter-Straflager Abu Ghraib im Irak, das nach 9/11 in die Schlag- zeilen geriet. Tell setzt seine Reise zusammen mit Cirk fort und entwickelt etwas, das er bis dato nicht kannte: Vatergefühle. „The Card Counter“ ist eine beklemmende Studie über einen Mann mit erdrückender Vergangenheit, getragen von einem souverän auf- spielenden Oscar Isaac. Wenn am Ende die Karten auf dem Tisch liegen undWilliam Tell explodiert, steht das exemplarisch für Ame- rikas Umgang mit Schuld in der jüngeren Geschichte. (cc) AB 3. MÄRZ GB/CHINA/USA 2021; 112 Min.; R: Paul Schrader; D: Oscar Isaac, Tiffany Haddish, Willem Dafoe ★★★★ ★ arbeitung von Verbrechen aus der Franco- Zeit und das Öffnen anonymer Massengrä- ber. Ist das heutzutage in Spanien noch ein kontroverses Thema? Auf jeden Fall eines, das uns seit einiger Zeit endlich mehr umtreibt denn je. Spanien war schon immer ein sehr geteiltes Land, nicht zu- letzt deswegen gab es ja damals den Bürger- krieg. Inzwischen gibt es, zumindest in den jüngeren Generationen, eine große Mehrheit, die dringend dafür ist, dass wir uns mit unse- rer Geschichte des 20. Jahrhunderts ausein- andersetzen und dass vor allem die Opfer des Bürgerkrieges und der Franco-Zeit Wiedergut- machung erfahren. Gleichzeitig gibt es auch starken Widerstand von Rechts, wo man lieber auf Geschichtsrevisionismus und Fake News setzt. Deswegen war es mir ein Anliegen, die- sem Thema – und der Wahrheit – mit meinem Film breites Gehör zu verschaffen. Sie setzten sich aber – der Titel deutet es an – auch wieder mit Mutterschaft auseinander. Was interessiert Sie daran so sehr? Herunterbrechen kann man es sicherlich da- rauf, dass meine eigene Mutter eine so wich- tige Rolle in meinem Leben gespielt hat. Sie und die anderen ländlichen Mütter ihrer Ge- neration haben mich sehr geprägt, denn die meisten von ihnen habe ich als liebevolle, vor- urteilsfreie Frauen erlebt, denen ich stets ein Denkmal setzen wollte. In praktisch allen mei- nen Filmen waren die Mutterfiguren letztlich eine Version meiner Mutter, kombiniert mit Ele- menten moderner Frauen. „Parallele Mütter“ ist nun der erste, der ohne den Schatten mei- ner Mutter auskommt und wo ich ganz bewusst andere, jüngere Frauen als Vorbilder im Kopf hatte. Wir müssen noch über Penélope Cruz spre- chen, die so etwas wie Ihre Muse ist. Kann sie Sie nach all den gemeinsamen Filmen noch überraschen? Als Schauspielerin immer wieder. In „Parallele Mütter“ hat sie mich sprachlos gemacht. So gut war sie noch nie. Gleichzeitig ist es natür- lich wichtig, dass wir uns so gut kennen, be- freundet sind, und sie sich in all den Jahren eigentlich nicht verändert hat. Penélope ist so leidenschaftlich und geduldig wie früher – und nicht zuletzt großzügig mit ihrer Zeit. Ich ver- lange als Regisseur meinen Schauspielern viel Engagement und Zeit ab. Gerade in Fällen wie diesem, wo Penélope jemanden spielt, der das Gegenteil von ihr selbst ist. So eine Rolle stemmt man nicht über Nacht. Obwohl sie mitt- lerweile ein viel beschäftigter Weltstar, Mutter und Ehefrau ist, stand sie mir kein bisschen weniger zur Verfügung als bei unserem aller- ersten gemeinsamen Film. Interview: Patrick Heidmann 22 FILM Foto: Focus Features Blue Bayou Zum ersten Mal im Leben spürt Antonio LeBlanc (grandios: Jus tin Chon) die Wärme und Geborgenheit einer intakten Familie. Geboren in Korea, wurde er mit drei Jahren von weißen Amerika nern aus Louisiana adoptiert, sein Vater missbrauchte ihn, die Mutter schaute weg. Antonio verlor den Halt, doch nun verdient er Geld als Tattoo Artist, Ehefrau Kathy (Alicia Vikander) ist sein Fels in der Brandung. Jesse (Sydney Kowalske) vergöttert den Stiefvater, wenn auch die Siebenjährige Angst hat, der neue Dad könnte plötzlich wieder verschwinden, so wie der vorige. Beim Einkauf imSupermarkt wird Antonio von rassistischen wei ßen Cops provoziert und verhaftet, darunter Kathys Ex. Wenig später erklärt die Einwanderungsbehörde, der Festgenommene würde nach Korea ausgewiesen, er besäße trotz legaler Adoption vor mehr als dreißig Jahren nicht die amerikanische Staats bürgerschaft. Kein Einzelfall, sondern weit verbreitete Praxis. Ein aussichtsloser Kampf beginnt, Frustration und Spannungen des eben noch glücklichen Paares wachsen. Vor Gericht zählt weder die Heirat noch Kathys Schwangerschaft, sondern allein, dass der Betreffende irgendwann einmal Motorräder geklaut hat und es wieder tun muss, um die 5000 Dollar für den Prozess aufzu treiben. Dies ist ein New Orleans weitab vom turbulenten Tourismus des French Quarters mit seinen Jazzclubs und Bars. Entbehrungen prägen den Alltag dieser Arbeiterviertel, aber der koreanisch- amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Justin Chon („Gook“, 2017) inszeniert das Porträt seines Protagonisten nicht als knall hartes düsteres Politdrama, sondern entwickelt ein an Emotion überbordendes Geflecht aus Beziehungen, Poesie und Landschaf ten in wundervollen gebrochenen Pastelltönen. Glück, Schmerz und Schrecken vermischen sich wie Fiebervisionen miteinander. Traumartige Flashbacks treffen auf Cinéma vérité in der Tradition von John Cassavetes. Herzzerreißend und hautnah die Verzweiflung der kleinen Jesse, während Justin Chon die Rolle des Antonio bewusst unterkühlt spielt. Mit schweremMotorrad, Muskeln und Seeadler-Tätowie rung versucht er, von seiner eigenen Verletzbarkeit abzulenken. Die Karaoke-Version des Roy Orbison-Songs gibt „Blue Bayou“ den Titel und Oscar-Preisträgerin Alicia Vikander einen spekta kulären Auftritt. (ag) AB 10. MÄRZ USA 2021; 117 Min.; R: Justin Chon; D: Justin Chon, Alicia Vikander, Sydney Kowalske ★★★★ ★ Appetit auf Neues? Hier geht s Jetzt auc im WEB www.genussguide-hamburg.com ESSEN+TRINKEN SPEZIALNR.34 2021/2022 |€12,50 ISBN:978-3-946677-64-2 www.genussguide-hamburg.com So is(s)tHamburg nachdemLockdown Genuss-Michel2021 Wiegut sindwir? Newcomer trotzen derPandemie Woes imUmland schmeckt DERSZENEHAMBURG Cover_final_4c_130921.indd 1 13.09.21 12:34 JETZT AM KIOSK! 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