Hamburg Pur 03/2022
THEATER Man hat Édouard Louis vorgeworfen, dass seine Bücher immer wieder das gleiche Thema behandeln … Er ist ja noch wahnsinnig jung, nicht einmal dreißig, und hat noch eine große Entwicklung vor sich. Deshalb wird er immer wieder anders auf seine Vergangenheit blicken. Als studier ter Soziologe kann er sich auch ein Bild davon machen, warum seine Eltern und die Verhält nisse so sind, wie sie sind. Er hat offenbar viel aufzuarbeiten … Er schreibt, dass er in der Schule jeden Tag im gleichen Flur auf die beiden Typen gewartet hat, die ihn dann zusammenschlagen haben. Er wollte nicht imSchulhof verprügelt werden, weil es dort alle anderen mitbekommen hät ten. Dabei hat er immer gelächelt, weil er dach te, dann tun die Jungs ihm nicht so weh. Auch vor seiner Mutter hat er immer nur gelächelt. Er wollte nicht, dass sie erkennt, wer er ist und was er für ein Leben führt. Um all diese Erfah rungen zu überwinden, ist harte Arbeit nötig. Könnte man das Buch als eine Art offenen Brief an die Mutter verstehen? Ja. Falk Richter hat eine sehr schöne Bühnen fassung geschrieben, die nahe amBuch bleibt. Josefine Israel spielt die junge Mutter und ich die Mutter in der Gegenwart. Warum werden immer öfter Prosatexte auf die Bühne geholt? Gibt es keine guten Thea- terstücke mehr? Wahrscheinlich möchte man einfach gute Stof fe erschließen. Ehrlich gesagt, lese ich Texte von Theaterstücken immer erst, wenn ich ge beten werde, darin mitzuspielen. Deshalb kann ich gar nicht beurteilen, ob es zu wenige gute neue Stücke gibt. Andererseits gibt es Gegenwartsautoren, die auch für die Bühne Prosatexte schreiben wie Elfriede Jelinek. Für Ihre Darstellung der Kirke in der Uraufführung von Jelineks Stück „Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!“ am Deutschen Schauspielhaus haben Sie im letz- ten Jahr den „Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares“ erhalten. Auf der Bühne sind diese Texte aber spannen der, als wenn man sie nur lesen würde. Bei dieser Produktion habe ich zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, wie man einem Text, der ohne Punkt und Komma und ohne Rollen verteilung geschrieben ist, in ein Stück ver wandelt. Dort spielten Sie ja eine Art Gegenstück zu Ihrer aktuellen Rolle und traten als Zauberin auf, die die Männer in Schweine verwandelt, um über sie zu herrschen. Andererseits sagt auch die Mutter in „Die Frei heit einer Frau“, als sie einen neuen Mann ken nenlernt: Jetzt lasse ich mich nicht mehr unter drücken. Jetzt bestimme ich! Aber reproduziert sie damit nicht nur den Machtmechanismus mit entgegengesetzten Vorzeichen? Man sucht sich immer die Muster, die einen geprägt haben. Aus denen kommt man nur heraus, wenn man verstanden hat, warum in der Vergangenheit etwas so passiert ist. Erst dann kann sich das ganze System verändern. Haben Sie schon früher mit Falk Richter zu- sammengearbeitet? Nein. Aber die Arbeit macht großen Spaß und findet – wie im letzten Jahr mit Karin Baier – auf Augenhöhe statt. Das ist auch eine Art Be freiung, eine neue Form der Regie ohne Macht gefälle. Mit Peter Zadek war das anders. Ob wohl wir uns gut verstanden haben und ich ihn durchaus vermisse, konnte er ganz schön aus teilen. Rainer Werner Fassbinder aber doch sicher auch … Mir gegenüber waren die Regisseure zumGlück immer respektvoll und vorsichtig. Und als ich mit Fassbinder angefangen habe zu arbeiten, war ich erst sechzehn. Der hatte sozusagen genauso Respekt vor mir – vor meiner Jugend und meiner hohen Disziplin – wie ich vor ihm. Heißt das trotzdem, dass Sie heute ihre Vor- stellungen als Schauspielerin stärker ein- bringen können? Nein, bei Zadek kam ja auch viel von der Bühne. Da habe ich überhaupt erst gelernt, selbst ständig zu arbeiten. Einerseits war das sehr locker, andererseits richtete sich doch alles nach ihm. Aber die Freiheit des Spiels habe ich seit Zadek eigentlich immer gehabt. Wir haben manchmal monatelang bei ihm improvisiert und hatten wahnsinnig viel Zeit, unsere Rollen zu entwickeln. Im Moment sind ja wegen Corona ja nur wenige Zuschauer zugelassen. Wie geht es Ihnen damit? Wenn ich in den Saal hinunterschaue, emp finde ich das manchmal sogar als persönlicher. Am Ende sind die Leute auch unglaublich dank bar und applaudieren wie verrückt, weil sie uns wohl auch zeigen wollen, wie froh sie sind, dass sie dabei sein können. Trotzdemwünscht man sich natürlich volle Säle. Jetzt mache ich schon die dritte Produktion hier am Schauspielhaus nach „Iwanow“ und dem Jelinek-Stück und fühle mich sehr privilegiert. Leider gibt es viele Menschen in unserer Branche, die der zeit nicht auftreten können und denen es richtig schlecht geht. Muss man nicht sogar sagen, dass die Themen des aktuellen Stücks – Armut und Gewalt – Themen sind, die durch Corona ver- stärkt in den Fokus geraten? Die Menschen verlieren ihre Arbeit, sitzen zu Hause und werden immer aggressiver. Natürlich, ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Meine Nichte hat drei Söhne von ganz klein bis elf Jahre. Das ist selbst zu zweit schwer. Ich bin froh, dass meine Kinder er wachsen sind. Wenn Sie zu einer Anhörung in den Bundes- tag geladen würden, umdie Corona-Situation in den Theatern aus Sicht einer praktizieren- den Schauspielerin einzuordnen und Rat- schläge zu geben, was würden Sie demAus- schuss sagen? Ich glaube, ich würde da nicht hingehen. Selbst für die Fachleute scheint eine Beurteilung schwierig zu sein, weil es ja fast täglich neue Erkenntnisse gibt. Ich hatte mich auch mit der Omikron-Variante angesteckt. Es war eine ganz normale Erkältung, und jetzt bin ich genesen – für drei Monate immerhin. Viele kommen nicht so glimpflich davon, und es gibt Tote. Aber das Spiel mit der Angst, das mag ich nicht. Interview: Sören Ingwersen 5. MÄRZ (PREMIERE), 8., 19.3., Deutsches Schauspielhaus 18 Jetzt NEU! Im Handel oder online über www.meine-zeitschrift.de EINGESCHENKT TOP-BARS,COOLE BRAUEREIEN , GUTERWEIN AUFGEMACHT WIEMUTIGE NEWCOMERDIE GASTROROCKEN ABGERÄUMT TESTSIEGER, PREISTRÄGERUND HANSEPERLEN DIE BESTEN RESTAURANTS UND JEDE MENGETIPPS FÜR GENIESSER SZENE HAMBURG SPEZIAL ESSEN + TRINKEN TOP TEN 2022 € 6,90 ISBN978-3-946677-69-7 SPEZIALNR.2 2022 |€6,90 001_ET_Titel-TT_21 1 21.12.2021 17:36:53 szene-hamburg.com THEATER Hymnen an die Nacht Nachts sind alle Katzen grau? Nicht in Hamburg – nicht in bestimmten Nächten! In einem achtstündigen Spektakel stimmt das Thalia Theater „Hymnen an die Nacht“ an. Es beginnt mit einem Vorabendprogramm von 17 bis 19.30 Uhr, bei dem man aus drei unterschiedlichen Touren mit jeweils zwei Ereignissen wählen kann: Lesungen, gespielte Szene, Musik oder Tanz erwartet das mobile Publikum zum Beispiel in der Hamburger Kunsthalle, im Börsensaal der Handelskammer oder in der Kantine von Hapag-Lloyd – alles in Theater-Nähe. Ab 20 Uhr sammeln sich die Zu- schauer dann imGroßen Haus amAlstertor: Dort zeigt sich „Der Sandmann“ in einer Oper von Robert Wilson mit der Musik von Anna Calvi nach dem gleichnamigen Schauer- märchen von E. T. A. Hoffmann. Allerdings ohne die berühmte Wilson-Ästhetik: Dessen Textfassung verwandelt Regis seurin Charlotte Sprenger in eine eigene Inszenierung. Ab 23 Uhr stehen vier verschiedene Angebote zwischen Coc- teau und Büchner zur Wahl, um pünktlich ab Mitternacht Open Air die „Hymne an die Nacht“ vor dem Thalia Theater gemeinsam zu erleben. Hardcore-Nachtschwärmer können ab 0.30 Uhr noch kostenlos „Nachtkunst“ im Mittelrang foyer des Thalia Theaters genießen. (def) 26. MÄRZ und weitere Termine; Thalia Theater Foto: Fabian Hammerl Eine Hymne auf die Einsamkeit: „Einhandsegeln“ imMittelrangfoyer
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