hamburg:pur Februar 2025

ESSEN+TRINKEN INTERVIEW „Nur wer selber kocht, kann frei wählen“ Sarah Wiener ist als bekannte TV-Köchin und langjährige Umweltaktivistin eine wichtige Stimme der Genuss-Guide-Nachhaltigkeitswochen 2025. Im Interview spricht sie über ihre Leidenschaft zum bewussten Genuss und wie sie die Zukunft von Gastronomie und Gesellschaft sieht SarahWiener, Sie haben eine beeindruckende Karriere hinter sich: von der Gastro über das Fernsehen bis in die Politik und Ihre Stiftung. Wie hat Ihr Werdegang Sie zu Ihrer heutigen Arbeit und Haltung als Aktivistin für nachhal- tige Ernährung geführt? Sarah Wiener: Das war eher ein leidenschaft- licher, intuitiver Weg. Das Interesse und die Be- schäftigung mit Essen, Lebensmitteln, Anbau und allem, was dazu gehört, zieht sich als roter Faden durch mein Leben. Gab es da bestimmte Schlüsselerlebnisse, die Sie geprägt haben? Schon sehr früh hatte ich ein Misstrauen zu industriellen Nahrungsmitteln. Mit acht Jah- ren habe ich aufgehört Cola zu trinken, da es damals das Gerücht gab, es würde die Leber zersetzen. Auch der Hormonfleisch-Skandal hat mich schon früh betroffen gemacht. Dass man Tiere, also unsere Mitgeschöpfe, quält, indemman diese statt wesensgerechter Füt- terung nur zur Gewinnmaximierung mit Hor- monen versetzt. Das hat mich zutiefst empört. Auch diese elendig langen Zutatenlisten in unseren Nahrungsmitteln. Die machen uns nicht gesünder und glücklicher, sondern ma- ximieren das Geld von einigen wenigen – die Industrie, die möglichst immer gleichmäßig, billig und viel produzieren möchte, hat andere Interessen als alle Essenden. Sie haben sehr viele Projekte realisiert. Woher nehmen Sie die Energie und Inspira- tion für Ihre vielfältigen Aktivitäten? Ich bin jemand, der impulsiv und intuitiv han- delt. Und wenn ich eine Idee habe, die ich für Foto: Sarah Wiener Stiftung/Thomas Panzau 4 ESSEN+TRINKEN wichtig halte, versuche ich sie umzusetzen. Ich komme aus einer Künstlerfamilie – es gab keine klassischen Erwartungshaltungen für meinen Lebenslauf. Ich war wirklich frei, das zu machen und dem nachzugehen, was ich wollte. Und da hat mir das Kochen als sinnli- cher Akt und die damit verbundene Kreativität besonders Spaß gemacht. Und natürlich das Essen mit anderen. Ihre Stiftung „SarahWiener Stiftung“ wurde 2007 gegründet, umKindern das Kochen bei- zubringen und ihnen bewusste Ernährung zu vermitteln. Was hat Sie dazu inspiriert, diese Mission ins Leben zu rufen? Die Stiftungsgründung war eine logische und positive Folge meiner Wut auf die Nahrungs- mittelindustrie. Und die Erkenntnis, dass man sich nur mit demSelber-Kochen gegen schwerst verarbeitete Nahrungsmittel stemmen kann. Nur wer selber kocht, kann frei wählen und ver- antwortungsvolle Entscheidungen treffen. Ich wollteMenschen das Kochen beibringen, damit sie selbst entscheiden können, was sie essen. Als ichmir überlegt habe, welche Gruppe sinn- voll und wichtig sein kann, kam ich schnell auf die Kinder – die werden ja später selbst Eltern sein. Der Geschmack prägt sich hauptsächlich in den ersten 1000 Tagen, also sehr, sehr früh. Ich wollte alle Kinder erreichen: Nämlich an öffentlichen Bildungseinrichtungen. ZumGlück haben wir ja Schulpflicht. Warum ist frühzeitige Ernährungsbildung so wichtig? Wegen der körperlichen, geistigen und seeli- schen Gesundheit. Essen prägt uns und un­ sere Mitwelt. Wenn Kinder minderwertig essen und nie lernen, wie eine richtige Hühnersuppe schmeckt, dann kann das ihr Geschmacks­ gedächtnis verschlammen und ihre Körper- souveränität beeinflussen. Manche Erzie- hungsberechtigte sind überfordert und wissen selbst nicht, was gute, gesunde Ernährung ist. Deshalb ist das eine gesellschaftliche Aufgabe, der wir uns annehmen sollten, um die Schere der sozialen Ungerechtigkeiten zu schließen und den Kindern den bestmöglichen Start für ihr gesamtes Leben zu ermöglichen. Essen ist die Basis unserer Existenz, unserer Identität und unserer Kultur. Sie betonen oft, wie wichtig Selbstwirksam- keit ist. Was bedeutet dieser Begriff imKon- text Ihrer Arbeit mit Kindern und Fachkräften? Wenn Menschen merken, dass sie mit wenigen Grundnahrungsmitteln selber kochen, selber kreativ sein, selber beurteilen können, ob es ihnen schmeckt oder nicht, dann ist es eine lebensverändernde Erfahrung. Dadurch erlan- gen sie die Autonomie über den eigenen Kör- per zurück. Wenn immer andere entscheiden, was gegessen wird, dann schmälert das ihr Selbstbewusstsein und auch ihre Urteilskraft. Gibt es eine besondere Geschichte oder ein Erlebnis aus der Arbeit Ihrer Stiftung, die Sie persönlich berührt hat? Es gibt viele Geschichten, die mich berühren. Sowohl imPositiven als auch imNegativen. Ich habe einen fünfjährigen Jungen kennengelernt, der noch nie eine rohe Karotte gegessen hat. Stattdessen bekam er jeden Tag einen Euro und kaufte sich davon beim Discounter tro- ckenen Kuchenboden und eine Dose Eistee. Es brauchte drei Kochstunden, bis er sich ge- traut hat, in eine unverarbeitete Karotte zu bei- ßen. Ich erinnere mich auch an ein junges Mäd- chen, die sich vor einem Apfel am Apfelbaum ekelte, weil sie nur Obst und Gemüse in Plastik verpackt kannte. Aber genauso bin ich begeis- tert, wenn ich sehe, dass kleine Kinder keine Scheu haben, Rinderzunge oder gedämpften Fisch zu essen. Es ist so schön zu sehen, wenn sie ihr selbst kreiertes Werk bestaunen, mit Genuss essen und stolz auf sich sind. Regionale und saisonale Produkte spielen eine zentrale Rolle beim Thema nachhaltige Ernährung. Wie kann die Gastronomie diesen Ansatz stärker fördern? Es geht nicht nur um regionale und saisonale Produkte, sondern es geht auch um ökologisch produzierte Produkte. Zudem haben auch re- gionale Tiere nicht immer die Möglichkeit vor Ort ihre Grundbedürfnisse auszuleben. Des- wegen würde ich den Begriff noch erweitern. Um es verständlicher zu machen: Es geht um vernünftige Ernährung – etwas, was unseren Kindern und unseren Kindeskindern auch noch eine lebenswerte Zukunft ermöglicht. Wir kön- nen nicht sagen „für uns heute alles und für morgen bleibt dann nichts mehr“. Wir sollten ökologische Kreisläufe schließen, damit wir länger Freude an der Welt haben und unsere Nachkommen auch. Wir sind ein Teil der Natur und wenn wir die Natur stärken, stärken wir immer auch uns selbst. Und wie sehen Sie die Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit in Hamburgs Gastro- landschaft? Welche Verantwortung haben die Gastronomen im Allgemeinen? Es gibt einen Systemfehler per se. Es fängt ja schon bei der Lehre an: Es muss hier schon ein Augenmerk auf die Themen wie Pestizide, Nachhaltigkeit, Tierwohl oder Vielfalt in den Grundprodukten gelegt werden. Auch haben wir schon länger ein Nachwuchsproblem. Nicht umsonst wird von Zukunftsforschern voraus- gesagt, dass in zehn bis 15 Jahren der Beruf Koch und Köchin aussterben wird. Allerdings kann der Fokus auf frische, regionale und in- dividuelle Küche auch ein Wettbewerbsvorteil sein. Die große Stärke ist, dass Menschen eine Sehnsucht nach demUrsprünglichen und nach dem Authentischen haben. Jeder Koch, der selber mit frischen Grundzutaten kocht, kann seinen Gästen Rede und Antwort stehen und so Vertrauen aufbauen. Das ist eine große Chance. Und im Hinblick auf die vielen Krisen wie Biodiversität, Klima und länderübergrei- fende Unsicherheiten macht uns die direkte Verbindung zu Produzenten, Bauern und zum Umland auch viel resilienter. Sie sind eine wichtige Stimme bei den Ge- nuss-Guide-Nachhaltigkeitswochen. Was er- hoffen Sie sich von dieser Veranstaltung für Hamburgs Gastro und welche Botschaften möchten Sie bei Ihrem Vortrag besonders hervorheben? ZumGlück gibt es eine Menge sehr engagier- ter, hervorragender Köchinnen und Köche, die wir feiern sollten. Ich erwarte mir Unterstüt- zung und mehr Aufmerksamkeit für die nach- haltige Gastro-Szene. Auch die Möglichkeit, Wissenslücken zu schließen und so ein Be- wusstsein dafür zu schaffen, dass wir alle eine gesellschaftliche Veränderung brauchen. Kochen verbindet Menschen, ist also auch demokratie-stärkend. Es ist einer der wenigen Berufe, wo noch mit allen Sinnen gearbeitet wird und man sich mit Menschen auf liebevolle Weise verbinden kann. Ich möchte Gastrono- men und Gastronominnen ermutigen, ihrem Handwerk und ihrer Kochkunst auf verantwor- tungsvolle Weise weiter nachzugehen, weil es am Ende allen Menschen zugutekommt. Sie waren bis vor Kurzem im EU-Parlament aktiv. Welche Erkenntnisse haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen? Die Zeit beim Europaparlament war eine sehr spannende und intensive Erfahrung. Ich habe sehr viel darüber gelernt, wie Politik funktio- niert. Und Politik passiert nicht im luftleeren Raum. Für echte Veränderungen braucht es immer eine unabhängige Mehrheit. Das ist ja auch die Schönheit an der Demokratie. Wir alle haben Einfluss und müssen nicht warten, bis sich die Politik bewegt. Bis dahin kann jeder Einzelne das richtige Handeln unterstützen und den richtigen Weg selbst einschlagen. Gibt es ein Lebensmotto oder eine Philoso- phie, die Sie bei ihrer Arbeit begleitet? Es gibt einen Spruch, den ich sehr mag: Da wo meine Füße stehen, da bin ich. Interview: Alina Fedorova 5

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