hamburg:pur Februar 2025

Foto: House Bird Limited Robbie Ryan FILM Bird Es gehört mittlerweile fast schon zum guten Ton, Regisseurin An- drea Arnold und ihre Spielfilme („American Honey“, „Fish Tank“, „Red Road“) in den Hauptwettbewerb um die Goldene Palme nach Cannes einzuladen. Mit dem Coming-of-Age-Film „Bird“ war die britische Filmemacherin nun zum vierten Mal dort vertreten. Das Sozialdrama zeigt Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in prekären Verhältnissen, ohne zu belehren oder auf sie herabzu- schauen. Stattdessen ist der Blick so voller Empathie, die ver- mutlich nur eine Person aufbringen kann, deren Biografie Paral- lelen zu dieser Lebenswelt aufweist. Denn Arnold wuchs selbst in einer Sozialsiedlung auf und musste früh Verantwortung für sich und ihre jüngeren Geschwister übernehmen – so wie ihre junge Protagonistin in „Bird“. Die zwölfjährige Bailey (Nykiya Adams) lebt mit ihrem Vater Bug (Barry Keoghan) und ihrem Halbbruder Hunter (Jason Buda) in einem besetzten Haus in der südenglischen Hafenstadt Grave- send. Mit ihrem chronisch überforderten und impulsiven Erzeu- ger, der selbst noch nicht wirklich erwachsen ist, gerät sie häufig aneinander. Etwa wenn Bug beschließt, seine neue Freundin Kay- leigh (Frankie Box) nach drei Monaten zu heiraten. Das nötige Geld dafür soll eine südamerikanische Kröte liefern, die angeblich hal- luzinogenen Schleim absondert, den der liebenswerte Chaot als neue Droge verkaufen will. Nach einemStreit streunt Bailey durch die Natur und trifft dabei auf den geheimnisvoll-kauzigen Bird (Franz Rogowski), der ihr hüpfend im Rock entgegenkommt. Der Sonderling wird für das Mädchen nicht nur ein Freund und Helfer, sondern auch Identifikationsfigur. Zu Andrea Arnolds größten Talenten gehört es, flüchtige Momente zu konservieren, indem sie diese zu etwas Besonderemmacht – sei es in Kombination mit dem passenden Song, eindrücklichen Bildern oder originellem Humor. Auch „Bird“ lebt davon: Bailey und Bug, die zusammen auf dem E-Scooter zum dreckig-krawal- ligen Sound von Fontaines D.C. durch den Ort brettern. Bug und seine Freunde, die schief „Yellow“ von Coldplay für die Kröte sin- gen, um ihre Schleimproduktion anzuregen. Das sind nur zwei von vielen strahlenden Szenen, die zeigen: Die soziale Lage ist prekär, aber die Gemeinschaft ist alles. Einziges Manko: Die Familienge- schichte lässt sich nur holprig mit demmagischen Realismus zu- sammenführen, der im Laufe des Films immer stärker Einzug hält. (sis) AB 20. FEBRUAR GB, USA, F, D 2024; 119 Min.; R: Andrea Arnold; D: Nykiya Adams, Barry Keoghan, Franz Rogowski ★★★★★ Der Lehrer, der uns das Meer versprach Der Kontrast könnte nicht größer sein: Eine schweigsame, in sich gekehrte junge Frau besucht ihren im Rollstuhl sitzenden Groß- vater in einem Seniorenheim an der katalanischen Küste. Nach mehreren Schlaganfällen kommuniziert er nur noch über Gesten und Blicke. Wortkarg auch die Unterhaltung zwischen der Tochter und ihrer ebenfalls anwesenden Mutter. Dagegen ein junger, auf- geschlossener, fröhlicher junger Mann, voller Energie und Enthu- siasmus, der Mitte der Dreißigerjahre als Lehrer in ein abgelege- nes Dorf bei Borgos kommt. Nur wenige Monate später wird er Francos Faschisten zumOpfer fallen. Was diese beiden Menschen, die junge Frau Ariadna (Laia Costa) im Jahr 2010 und den Lehrer Antoni (großartig: Enric Auquer) unmittelbar vor Beginn des Spa- nischen Bürgerkrieges, verbindet, davon erzählt Patricia Fonts zart komponiertes und bei aller Grausamkeit fast verstörend schö- nes Drama. Denn Ariadnas Großvater Carlos war einst ein Schüler Antonis. Der lehrte den rebellischen Jungen nicht nur das Schreiben und Denken, sondern nahm ihn in seinem bescheidenen Heim auf. Carlos’ Vater war da längst in Gefangenschaft. Doch dieser An- toni eckt mit seinen unkonventionellen Lehrmethoden in dem katholisch-konservativen Dorf an – und eröffnet den Kindern da- durch eine neue Welt. Als 75 Jahre später zahlreiche Massengräber in der Region ent- deckt werden und Ariadnas Familie darüber informiert wird, be- gibt sie sich auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte. Nie hat der Großvater über seine traumatisierende und zugleich beglü- ckende Kindheit gesprochen. Es ist ein Film über die Sprachlo- sigkeit in Familien, über vererbte Traumata und ein schreckliches Kapitel in der spanischen Geschichte. Es ist aber auch die Ge- schichte eines mutigen Mannes, der mit seinem unerschütterli- chen Idealismus gegen alle Widerstände die Welt im Kleinen zu einem besseren Ort macht und Kinder auf ihremWeg dorthin be- gleitet. Basierend auf wahren Begebenheiten und immer wieder in Rückblicken erkundet Regisseurin Patricia Font mit ihrer Pro- tagonistin die Vergangenheit – und wie sie in der Gegenwart nach- wirkt. Ein ergreifend schöner Film ohne jeden Kitsch. (bs) AB 6. FEBRUAR ESP 2023; 105 Min.; R: Patricia Font; D: Enric Auquer, Laia Costa, Luisa Gavasa, Rámon Agirre, Gael Apricio ★★★★★ Foto: Filmax 26 FILM Foto: Les Films du Losange Foto: Wild Bunch Germany DieWärterin Ein Polizist, ein Raum, ein Telefon – viel mehr brauchte Gustav Möller nicht, um in seinemSpielfilmdebüt „The Guilty“ (2018) an- derthalb Stunden lang nervenaufreibende Spannung zu erzeugen. Der auf den Schauplatz einer Notrufzentrale begrenzte Thriller spielte geschickt mit der Vorstellungskraft des Publikums und verhandelte das Thema „Schuld“ auf nachhaltig erschütternde Weise. Verhältnismäßig minimalistisch geht es auch in „Die Wär- terin“ zu, der zweiten Kinoarbeit des dänischen Filmemachers, die sich fast ausschließlich auf einen Gefängniskomplex konzen- triert. Ein folgenschwerer Fehltritt und Fragen nach Vergebung bilden erneut die Grundlagen des Drehbuchs. Dieses Mal im Fokus der oft keine Distanz zulassenden Kamera: eine von Sidse Babett Knudsen eindringlich verkörperte Knast- aufseherin, die den Insassen zugewandt und hilfsbereit begegnet. Als jedoch ein junger Mörder in die Anstalt überstellt wird, spannt sich ihre Haltung merklich an. Die beiden verbindet eine schmerz- hafte Geschichte, das ist nicht zu übersehen. Zielstrebig fädelt sie eine Versetzung in den Hochsicherheitstrakt ein und nutzt fortan jede Gelegenheit, um den Neuankömmling zu drangsalie- ren. Beklemmung und ein Gefühl der Unausweichlichkeit entste- hen schon durch das einengende, fast quadratische Bildformat, das Möller für sein farblich entsättigtes Rachedrama gewählt hat. Nicht nur die Figuren agieren in einer geschlossenen Welt, auch der Zuschauer bekommt kaum Luft zum Atmen. Ohne in reißeri- sche Vergeltungsmuster zu verfallen, baut der Film eine druck- volle Atmosphäre auf. Was genau hat die Protagonistin im Sinn? Und wie weit wird sie gehen? Aus diesen Ungewissheiten und einem Kippen der Machtverhältnisse erwächst ein kontinuierli- ches Brodeln. Die Wucht seines clever konstruierten Erstlings- werks erreicht der Regisseur allerdings nicht. Dafür strapaziert „Die Wärterin“ im letzten Drittel manchmal zu sehr die Glaubwür- digkeit und wirkt thematisch nicht ganz zu Ende gedacht. (cd) AB 20. FEBRUAR DK, S 2024; 109 Min.; R: Gustav Möller; D: Sidse Babett Knudsen, Sebastian Bull Sarning, Dar Salim ★★★★★ Pfau – Bin ich echt? Matthias weiß genau, was er sagen muss, wann er lächeln, reden oder lieber schweigen sollte. Seine Kundinnen und Kunden bei der Rent-a-Friend Agentur „My Companion“ hinterlassen ihm aus- schließlich positive Bewertungen. Denn er kann problemlos in jede Rolle schlüpfen, für die er gebucht wird – vomVorzeigesohn bis zum Sparringspartner für Streitgespräche. Doch was in sei- nem Job charmant und weltmännisch rüberkommt, wirkt in sei- nemPrivatleben starr und mechanisch. Als ihn seine Freundin im gemeinsamen Zuhause zurücklässt, weil er ihr nicht echt genug ist, versucht er – eher halbherzig – etwas zu ändern. Neben der Suche nach sich selbst und demWunsch nach Verbindung, macht ihm auch ein aus dem Ruder gelaufener Auftrag zu schaffen. Die merkwürdigen Vorfälle häufen sich. Mit seinem Ruben-Östlund-artigen Stil machte sich Regisseur und Drehbuchautor Bernhard Wenger bereits durch den mehr- fach preisgekrönten Kurzfilm „Entschuldigung, ich suche den Tischtennisraum und meine Freundin“ einen Namen. In seinem Spielfilmdebüt platziert der Österreicher die Serviceindustrie im Zentrum einer subtilen „Late Capitalism“-Dystopie, in der An- sehen käuflich ist und Charakter zur Ware wird. Die Welt, die Wen- ger zeichnet, ist sorgfältig kuratiert. Von der Kulisse bis zu den Akteuren wirkt alles wie ein Set für ein Instagram-Fotoshooting. Sogar Matthias’ Exkurs in die Selbstfindung wird in ästhetische Extreme getrieben. Es ist nicht leicht, Matthias zu mögen, der sich sogar für die Trä- nen bei seiner Trennung an seiner Requisitenkiste für die Arbeit bedienen muss. Doch Albrecht Schuch, selbst ein Meister der Verwandlung, verkörpert diesen unkonventionellen, auf seine ganz eigene Weise tragischen Protagonisten durchweg glaubhaft – und doch immer mit einem Augenzwinkern. Bernhard Wenger erschafft ein pointiertes Porträt eines Charak- ters, der sich vollkommen für die Konsumgesellschaft instrumen- talisiert. Ein kritischer Blick auf das, was man bereit ist, für den Job zu geben, absurd verzerrt und dennoch mit erschreckendem Wiedererkennungswert. (pau) AB 20. FEBRUAR DE, AT 2024; 102 Min.; R: Bernhard Wenger; D: Albrecht Schuch, Julia Franz Richter, Anton Noori, Maria Hofstätter ★★★★★ hamburg:pur Aktion! Für eine Sondervorstellung des Films „Pfau – Bin ich echt?“ am Dienstag, den 11.2. um 19:30 in den Zeise Kinos (mit Albrecht Schuch und Regisseur) verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Betreff „pur:Pfau“ an verlosung@szene-hamburg.com ; Einsendeschluss 8.2. 27

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