hamburg:pur Februar 2024
Foto: Giganten Film/Pandora Film Foto: Grandfilm/Mickey & Mina LLC FILM Rickerl „Musik is höchstens a Hobby“ lautet der Untertitel von Re- gisseur Adrian Goigingers („Die beste aller Welten“) Komödie „Rickerl“. Was für eine Untertreibung! Schließ- lich ist Musik hier omnipräsent und übernimmt neben dem österreichischen Liedermacher Voodoo Jürgens die zweite Hauptrolle. Der Wiener Erich „Rickerl“ Bohacek (Voodoo Jürgens) hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Durch seinen unangepassten Lebensstil gerät er immer wieder mit dem Arbeitsmarktservice (AMS) aneinander. Denn Rickerls wahre Leidenschaft ist die Musik. Seine Songs trägt der erfolglose Liedermacher abends in Beisln vor. Manchmal ist bei den Kneipen-Auftritten auch Rickerls Sohn Dominik (Ben Winkler) dabei. Von dessen Mutter Viki (Agnes Haus- mann), die mittlerweile ein gutbürgerliches Leben mit ihrem neuen Partner Kurti (Claudius von Stolzmann) führt, ist er getrennt. Höchst unterhaltsam und in schönstemWiener Schmäh begleitet der Film den liebenswerten Chaoten dabei, ein verantwortungsvoller Vater zu werden und endlich als Musiker Fuß zu fassen. Dabei immer präsent: die live amSet eingespielten Lieder von Voodoo Jürgens. Auch andere Austropop-Interpreten werden gewürdigt: Der Nino aus Wien hat einen Gastauftritt, es laufen Songs älterer Vertreter wie Wolfgang Ambros und S.T.S. Nicht nur durch seinen Soundtrack wirkt der Film teilweise herrlich aus der Zeit gefallen. Am offensicht- lichsten zeigt sich das am Einsatz der Zigarette: Geraucht wird immer und überall – im Kino, in der Bahn, beim AMS. Das passt zur körnigen Optik der Bilder, den warmen Orangetönen und vernebelten Räumen. Reality Was für ein Name! Reality Winner. Ungewöhnlich, aber echt. Ganz so wie die Geschichte der jungen Amerikanerin, die Tina Satter in ihrem Kinodebüt erzählt. Zuvor hatte die Regisseurin sie bereits auf die Thea- terbühnen New Yorks gebracht. Gefeiert wurde ihre Inszenierung als intensives und hochpolitisches Drama, genauso wie der Film es ist. Und das mit „Euphoria“-Star Sydney Sweeney als 25-jährige Reality Winner, die am 3. Juni 2017 Besuch von zwei Beamten des FBI be- kommt, die sie in eine Befragung verwickeln, die zu ihrer Festnahme führt. Der Protagonist selbst hat kein Smartphone, dafür aber eine Schreib- maschine und trifft in seinen Stammkneipen einen deutlich älteren Freundeskreis – vielleicht um das zerrüttete Verhältnis zum eigenen spielsüchtigen Vater (Rudi Larsen) zu kompensieren. Diese Figur erscheint als einzige zu überzeichnet-konstruiert in einem Film, in dem Handlung und Rollen sich ansonsten der Atmosphäre unterordnen und so perfekt mit ihr harmonieren. (sis) AB 1. FEBRUAR AT/D 2023; 104 Min.; R: Adrian Goiginger; D: Voodoo Jürgens, Ben Winkler, Agnes Hausmann ★★★★★ Mit 19 Jahren war Winner bereits bei der US Air Force eingetreten, sprach fließend Farsi, Dari und Paschto und machte in Krisengebieten Drohnenziele für systematische Tötungen aus. Für mehr als 650 er- folgreiche Operationen ausgezeichnet und von starken Schuldgefüh- len und Depressionen geplagt, wechselte sie schließlich zur National Security Agency (NSA). Als sie dort Einblick in geheime Regierungsdo- kumente bekommt, die beweisen, dass Russland sich in die US-Wah- len 2016 eingemischt hat, gibt sie die Informationen an die Mediaplatt- form The Intercept weiter. Nicht nur für ihre Mutter wurde sie dadurch zu einer Kämpferin für die Demokratie. Doch eine so große Öffentlichkeit wie Chelsea Manning oder Edward Snowden bekam sie selbst dann nicht, als sie unter Trump mit mehr als fünf Jahren Haft zu der höchsten Strafe verurteilt wurde, die jemals für so eine Tat verhängt wurde. Auch deshalb holte Tina Satter ihre Geschichte ins Rampenlicht und versah das Kammerspiel mit einem besonderen Dreh. Wort für Wort folgt es dem Verhörprotokoll des FBI und so wird man in Echt- zeit und mit dokumentarischer Intensität Zeuge, wie die Beamten Winner mit allerlei Tricks immer mehr in die Ecke drängen. Ganz nah bleibt der Film bei ihr, während ihr Haus umstellt und durchsucht wird und ihre Privatsphäre sich auflöst. Gerade mal 83 Minuten braucht das – und hallt sehr lange nach. (sd) AB 8. FEBRUAR USA 2023; 83 Min.; R: Tina Satter; D: Sydney Sweeney, Josh Hamilton, Marchánt Davis ★★★★★ 24 Foto: Curiosa Films/Gaumont/ France2 Cinéma/Stephanie Branchu Foto: Parisa Taghizadeh/Searchlight Pictures/20th Century Studios FILM hamburg:pur Aktion! Für eine Preview des Films „Geliebte Köchin“ am 8.2., 20 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „Geliebte Köchin“ an verlosung@szene-hamburg.com ; Einsendeschluss: 5.2. Geliebte Köchin Frankreich, 1885. Die begnadete Köchin Eugénie (Juliette Binoche) steht seit 20 Jahren im Dienst des legendären Gourmets Dodin Bouffant (Benoît Magimel). Sie bilden ein Team, das sich blind versteht, köstliche Gerichte kreiert und sowohl Freunde als auch Dinnergäste entzückt. Die gegen- seitige Bewunderung überschreitet das rein Fachliche, die gemeinsame Zeit in der Küche und die gemeinsame Liebe zum Kochen hat auch die Zuneigung zueinander wachsen lassen. Doch Eugénie will ihre Freiheit nicht aufgeben. Um sie von einer Heirat zu überzeugen, beschließt Dodin erst- mals für seine Angebetete zu kochen … Regisseur Tr n Anh Hùng („Der Duft der grünen Papaya“) inszeniert die Kunst des Kochens in unübertroffener Wei- se. Das Zubereiten der Speisen wird in „Geliebte Köchin“ derart exzessiv zelebriert, dass man zwischenzeitlich ver- gisst, einem Film mit einer Handlung beizuwohnen. Dass das Kochen etwas Sinnliches, Verführerisches hat, wird dank der gekonnten Kameraführung und langen Planse- quenzen eindrucksvoll auf die Leinwand gebannt. Die Kamera schwebt über die Pfannen, Töpfe und Köpfe. Im Fokus steht stets das Essen: Es wird geschnitten, gekocht, gebraten, geschmort und gegessen. Aro- men, Düfte, Texturen, Konsistenzen, Temperaturen werden gemischt, dosiert und ausbalanciert. Wer da nicht Appetit bekommt, ist wohl vom vielen Food Porn auf Social Media abgestumpft. Auf Filmmusik wird größtenteils zugunsten natürlicher Geräusche verzichtet. Für die be- eindruckenden Kreationen der französischen Haute Cuisine sorgte Sternekoch Pierre Gagnaire. Die beiden Protagonisten Juliette Bino- che („Chocolat“) und Benoît Magimel („In Liebe lassen“) geraten da fast All of Us Strangers Mit seinen unbewohnten Apartments ragt ein Wolkenkratzer am Rande Londons in den Himmel. Nur zwei Männer sind bereits eingezogen und trotzen – jeder für sich – der klaustrophobischen Stille des unbewohn- ten Gebäudes. Adam (Andrew Scott), ein Autor mit Schreibblockade, verharrt in öder Einsamkeit, als Nachbar Harry (Paul Mescal) eines Abends prompt und scheinbar alkoholisiert vor seinemApartment auf- taucht. Er stellt sich vor und sucht ungeniert seine Nähe, Adam lehnt vorerst höflich ab. „There are vampires at my door“, flüstert Harry noch zu Nebendarstellern. Dieser Film ist ein Genuss für alle Sinne. In Cannes gab es dafür den Preis für die beste Regie. Zudem ist der Film im Rennen für den Os- car als bester internationaler Film. (mag) AB 8. FEBRUAR F 2023; 135 Min.; R: Tr n Anh Hùng; D: Juliette Binoche, Benoît Magimel, Emmanuel Salinger ★★★★★ bevor er geht. Ein seltsamer Satz, dessen schmerzliche Sprengkraft sich erst ganz am Ende des Filmes entfaltet. „All of Us Strangers“ erzählt die aufkeimende, pulsierende Liebesgeschichte jener zwei Männer und verknüpft sie mit den Kindheitserinnerungen der Hauptfigur Adam, die ihn anlässlich eines Drehbuchprojekts einholen. Was passiert, wenn man seinen Eltern als Gleichaltriger begegnen könnte? Regisseur Andrew Haigh findet in diesemmetaphysischen Melodram Antworten und verwebt geschickt die Wunden der Vergangenheit im Leben des homosexuellen Protago- nisten mit den verhornten Narben seiner Gegenwart. Offen bleibt, ob Adams Begegnungen mit seinen längst verstor- benen Eltern Bebilderung seines Buches, übernatürliche Ereignisse oder aber Anzeichen einer psychischen Störung sind. Vielmehr geht es darum, was Adam in diesen mysti- schen Sequenzen fühlt, begreift oder bewältigt – getragen von Andrew Scotts umwerfendem Schauspiel. Der wunderbare Soundtrack löst die Grenzen zwischen Rea- lität und Traum in „All of Us Strangers“ auf und nimmt den Zuschauer musikalisch mit in Adams Kindheit der 1980er- Jahre, ohne in nostalgischen Kitsch abzugleiten. Wenn im großen Fi- nale Frankie Goes to Hollywood die Macht der Liebe besingt, hat der Film bereits eine beispiellos schmerzhafte Wendung genommen. Es ist der große unbefriedigende Widerspruch des Filmes, der bis zum Schluss an die Kraft der Liebe appelliert und doch eine kalte, stechen- de Leere hinterlässt. Es ist eben dieser Widerspruch, der den Film über- dauert. (rk) AB 8. FEBRUAR USA/GB 2023; 105 Min.; R: Andrew Haigh; D: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell ★★★★★ 25
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz