hamburg:pur Februar 2024

FILM DRAMA Mit demLatein amEnde Was gibt es Schöneres, als die Weihnachtsferien mit dem Latein-Lehrer zu verbringen? In „The Hol­ dovers“ mit Paul Giamatti in der Hauptrolle beweist Regisseur Alexander Payne, dass es wenig braucht, um einen grandiosen Film zu produzieren Der neue Film von Alexander Payne hat die Aura einer ausgegrabenen Filmperle aus den Sieb- zigern. Das beginnt schon beim auf Retro ge- trimmten „Focus Features“-Logo und findet in Set-Design und Kameraarbeit die Vollendung. „The Holdovers“ markiert Paynes erste Zusam- menarbeit mit Paul Giamatti seit dem Oscar- prämierten „Sideways“ von 2004. Wir schreiben das Jahr 1970. Paul Hunham unterrichtet seit einer gefühlten Ewigkeit klassische Sprachen an der Barton Academy, einem elitären Jungs- Internat in New England. Für seine versnobten Schüler hat der grimmige Lehrer mit dem irritierenden Silberblick nur Verachtung übrig, folglich lässt er sie reihenweise durch die Prü- fungen rasseln. Der unnahbare Angus Tully (Dominic Sessa) heimst als einziger Schüler auch mal ein „B+“ ein. Als Angus erfährt, dass seineMutter Weihnachten lieber mit ihrem neuen Lover verbringen will, fällt ihm der schwarze Peter des „Holdovers“ zu, eines Schülers also, der die Festtage in der verwaisten Lehranstalt zubringen muss. Der alleinstehende Mr. Hun- hamwird ihm als Aufsicht aufs Auge gedrückt. Damit das Duo nicht verhungern muss, kommt noch Schulköchin Mary (Da’Vine Joy Randolph) dazu. Die beklagt einen just in Vietnam gefal- lenen Sohn, ist also ebenfalls ungeeignet, die trübe Stimmung aufzulockern. Naheliegend wäre nun, dass die drei Trauerklöße eine Ersatzfamilie bilden. Doch solch sentimenta- le Fahrwasser umsteuern Payne und sein Dreh- buchautor David Hemingson zumGlück. Es ist eher ein trotziger Teamgeist, der bei dem Trio erwacht. Gemeinsam werden Weihnachts­ partys und Kneipen besucht. DieGruppendyna- mik gipfelt schließlich in einem kathartischen Trip ins nahe Boston. Doch Payne ist zu sehr Realist, als dass er in dem Dreierbund mehr als eine demMoment geschuldete Notgemein- schaft sähe. Der Bund der „Holdovers“ wird nicht von Dauer sein, wohl aber ihre Leben für immer verändern. Und so entlässt einen der Filmmit banger Sorge um die Hauptfigur. Viel- leicht ist das der tiefere Grund, warum ihm kein Weihnachts-Starttermin vergönnt war … Text: Calle Claus AB 25. JANUAR USA 2023; 134 Min.; R: Alexander Payne; D: Paul Giamatti, Da’Vine Joy Randolph, Dominic Sessa ★★★★★ Foto: Focus Features/Seacia Pavao 22 Foto: Majestic/Jürgen Olczyk Foto: Agata Kubis/Piffl Medien FILM Green Border Angelockt von den falschen Versprechungen des belarussischen Diktators Lukaschenko haben Bashir (Jalal Altawil) und Amina (Dalia Naous) mit ihrer syrischen Familie wie viele andere Flücht- linge 2021 einen Flug nach Minsk gebucht, um von dort über die grüne Grenze nach Polen und dann zu ihren Verwandten in Schwe- den zu gelangen. Die immensen Białowieża-Wälder entpuppen sich als mörderische Falle. Unter Demütigungen und mit brutaler Gewalt werden Männer, Frauen, Kinder, Alte und Gebrechliche von den polnischen Grenzbeamten durch Morast und Stachel- draht zurückgetrieben nach Belarus, die Grenzer dort schicken sie wieder nach Polen. Die Regierung in Minsk benutzt die Mig- ranten aus Rache für Sanktionen als Waffe gegen die Europäi- sche Union (EU). Es ist ein Schachzug der Destabilisierung, um den Rassenhass im Nachbarland anzuheizen. Verzweiflung, Schmerzen, Angst, Durst, Kälte, Ausweglosigkeit, Ohnmacht in extremster Form: „Green Border“ bebt vor Zorn. Das kämpferische, ästhetisch virtuose Schwarz-Weiß-Epos von dokumentarischer Authentizität buhlt nicht umVerständnis oder Mitleid, es konfrontiert schonungslos mit der Realität. Die 74-jäh- rige polnische Regisseurin Agnieszka Holland („Hitlerjunge Sa- lomon“) sieht in dieser Situation „etwas ergreifend Exemplari- sches und vielleicht ein Vorspiel zu einem Drama, das zum mo- ralischen (und politischen) Zusammenbruch unserer Welt führen könnte“. Die Regie-Veteranin und ihr Team holen die Flüchtlinge aus dem Schatten ihrer Anonymität und Hoffnungslosigkeit, geben ihnen ein Gesicht und einen Namen. Dieses fiktionale Geflecht von Leid und Qual, das auf wahren Schicksalen beruht, ist meisterhaft in- szeniert. Jeder reagiert anders: Da sind die Ängstlichen, die Zwei- felnden und Entschlossenen wie die afghanische Lehrerin Leila. Sie versucht, Aminas Kinder abzulenken, ihnen spielerisch ein wenig Englisch beizubringen, für jene unerreichbare Zukunft in der EU. Eine hochschwangere Frau wird von den Grenzern über den Stacheldrahtzaun geschleudert wie Abfall, ein Junge stirbt im Sumpf. Holland schildert auch akribisch, wie die Grenzbeamten von ihrem Vorgesetzten moralisch indoktriniert werden. Die Re- gisseurin glorifiziert die radikalen Aktivisten und Aktivistinnen nicht, vielmehr zeigt sie, dass es an uns ist zu reagieren, zu helfen. (ag) AB 1. FEBRUAR PL, F, CZ, BE 2023; 152 Min.; R: Agnieszka Holland; D: Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Behi Djanati Atai ★★★★★ Stella. Ein Leben. Von Anfang an schwanken die Gefühle des Publikums zwischen Sympathie und irritierter Ungläubigkeit. Wenn diese junge Frau voller Lebensfreude und Selbstbewusstsein gegen den Willen der Eltern abends noch ausgeht, sie mit ihren Freunden mit aus- ufernder Leidenschaft und gleichzeitiger Härte für ein bevorste- hendes Jazzkonzert probt. Wenn sie ihrer Mutter mit jugendlicher Boshaftigkeit Neid vorwirft, einen Freund anraunt, er solle nicht heulen, nur weil sein Vater verhaftet wurde. Es ist das Jahr 1940 in Berlin und diese Frau ist die junge Stella Goldschlag, jene Jü- din, die später als „Greiferin“ Hunderte von Jüdinnen und Juden an die Nazis verrät. Der Pakt mit dem Teufel ermöglicht ihr ein luxuriöses, sicheres Leben – zumindest bis zum Kriegsende. Der Hamburger Regisseur Kilian Riedhof („Meinen Hass bekommt ihr nicht“) erzählt in seinem aufwendig produzierten Film von dem Leben dieser ambivalenten, historisch verbürgten Figur, ak- ribisch recherchiert und bildgewaltig. Stella ist die strahlende (Anti-)Heldin seines beeindruckenden wie verstörenden Dramas. Wie sie noch als Zwangsarbeiterin den Jungens den Kopf ver- dreht, wie sie nachts in die Clubs schleicht und wie sie gefälsch- te Pässe an Jüdinnen und Juden verkauft, von denen sie später einige verrät. Und sie lässt sich auf eine gefährliche, hocheroti- sche und dabei toxische Beziehung mit dem windigen Pass­ fälscher Rolf Isaakson (Jannis Niewöhner) ein. Paula Beer gibt diese Frau extrem vielschichtig und stets mit einer gewissen Verschlagenheit, Berechnung, Erotik und dann doch wieder mit einer großen Verletzlichkeit. Es ist ein großes Wagnis, in Deutschland eine Jüdin als Täterin darzustellen, wie der gleichnamige Roman von Takis Würger vor einigen Jahren gezeigt hat, auf den sich Riedhof an keiner Stelle bezieht. Er stellt Stella als Opfer und zugleich als Täterin eines pervertierenden Systems dar, versucht das Publikum aus seiner Komfortzone zu locken: Was hättest du getan? Die Frage mag wohl keiner schlussendlich beantworten können und so bleibt man ein wenig ratlos zurück. (bs) AB 25. JANUAR D 2023; 116 Min.; R: Kilian Riedhof; D: Paula Beer, Jannis Niewöhner, Katja Riemann ★★★★★ 23

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