hamburg:pur Februar 2023

Foto: Oliver Fantitsch Die Dreigroschenoper Etwas von Bertolt Brechts zeitlebens praktizierter Poly- amorie hat er als Autor in die Figur des Mackie Messer aus seiner „Dreigroschenoper“ transferiert: Dem schillernden Boss der Londoner Unterwelt liegen die Frauen zu Füßen. Mackies Konkurrent, demBettler-König Peachum, ist das in doppelter Hinsicht ein Dorn imAuge, scheinen doch so- wohl seine Tochter als auch die Gattin dem Frauenhelden verfallen zu sein. Dazu passt, dass Brechts damalige Lebensabschnittsbegleiterin Elisabeth Hauptmann den Bärenanteil des Textes zum Stück beitrug, dessen Welt- erfolg bis heute nur Brecht und dem Komponisten Kurt Weill zugeschrieben wird. Am St. Pauli Theater gelingt eine ebenso rasante wie fan- tastische Inszenierung, für die Peter Jordan und Leonhard Koppelmann als Doppelspitze verantwortlich zeichnen. Die Story beginnt mit der Heirat Mackie Messers (brillant: Mi- chael Rotschopf) und Peachums Tochter Polly (ordentlich ordinär: Anneke Schwabe). Um die beiden dennoch aus- einanderzubringen, fädelt das Ehepaar Peachum (groß- artig: Anne Weber und Gustav Peter Wöhler) Mackies Ver- haftung ein. Doch statt zu fliehen, wird dem Gauner die Vorliebe für Huren zumVerhängnis: Eine Ex-Geliebte verrät ihn an den bestechlichen Polizeichef (hervorragend: Ste- phan Schad). Andererseits: Eine weitere Ehemalige des gleichen Gewerbes verhilft ihmwenig später zur Flucht … Und es wäre ein rundum gelungener Abend geworden, hätte man nicht ständig über die unmotivierte Choreografie und die viel zu ausladenden Bewegungen der für die (über- schaubare) Bühne des St. Pauli Theaters zu großen­ Gruppe von Musical-Darstellerinnen und -darsteller hin- wegschauen müssen. Zum Glück überzeugte die Musik des Theater Orchesters Hamburg, souverän geleitet von Uwe Granitza. Tatsächlich sind die Songs unsterblich, egal ob sie von den Soldaten in den Kanonen, einer Seeräuber- Jenny oder der sexuellen Hörigkeit erzählen. Text: Dagmar Ellen Fischer 1.–26. FEBRUAR UND WEITERE TERMINE; St. Pauli Theater De leven Öllern Mit einer beunruhigend klingenden Nachricht bitten die El- tern ihre drei erwachsenen Kinder zu sich! Bevor die den wahren Grund für das plötzliche Einberufen kennen, spe- kulieren sie wild: Gemeinsam geplanter Selbstmord infolge tödlicher Krankheit? Wer könnte notfalls Sterbehilfe leisten – die Tochter als angehende Ärztin oder doch lieber einer ihrer Brüder, der sich an das alte Jagdgewehr erinnert? Als „De leven Öllern“ endlich mit der Wahrheit rausrücken, sind alle erleichtert: Sie wollen nach Kambodscha auswandern, um dort ein Waisenhaus zu bauen. Erst auf massives Nach- fragen erläutern sie nuschelnd im Nebensatz, wie sie das zu finanzieren gedenken: durch einen Lottogewinn. Wie hoch der ist, verschweigen sie, schließlich fragen sie auch nicht den Kontostand ihrer Kinder ab! Tatsächlich ist der Betrag nicht von schlechten Eltern … Die französische Komödie „Chers Parents“ des Geschwis- ter-Autoren-Paars Armelle und Emmanuel Patron lebt von überraschenden Wendungen. In der plattdeutschen Erst- aufführung strahlen Meike Harten und Konstantin Graudus als liebenswertes Lehrer-Ehepaar im Ruhestand, das sich einen Lebenstraum erfüllen will; Flavio Kiener, Rabea Lübbe und Marco Reimers überzeugen als Geschwister-Trio, hin- und hergerissen zwischen echter Bescheiden- und ebenso aufrichtiger Unverschämtheit, wenn’s ums Geldabstauben geht. Nichts vom Gewinn zu bekommen, könnte fehlende Elternliebe bedeuten, andererseits auch als wahrer Liebes- beweis interpretiert werden, damit die Kinder auf dem Tep- pich bleiben. Irgendwann stellt der Vater die entscheiden- de Frage: Wie viel Geld brauchst du, um glücklich zu sein? Und jede/r der drei schreibt eine Zahl auf einen Zettel – be- vor dann doch noch das Jagdgewehr zum Einsatz kommt. Großartiger Dialogwitz und ernste Themen vertragen sich bestens in dieser tollen Inszenierung von Nora Schumacher. Text: Dagmar Ellen Fischer 1.–5., 7., 9.–12., 14.–19., 25., 26. FEBRUAR; Ohnsorg Theater Foto: Kerstin Schomburg THEATER 20 Foto: Sinje Hasheider THEATER Du blöde Finsternis! Vier Ehrenamtliche sitzen in den Räumlichkeiten der Lon- doner Telefonseelsorge „Brightline“. Eine von ihnen, Frances, hat einen Babybauch. Der 17-jährige Joey ist sichtlich bewegt. „Seit ich zwölf war, habe ich keine schwangere Frau mehr gesehen“, rutscht ihm heraus. Im Hintergrund grollt es, auf dem Boden liegen Ascheflo- cken. Die vier haben sie von draußen mitgebracht und von ihren Regenmänteln abgeschüttelt, die an den in Alt- rosa gestrichenen Wänden hängen. Die Welt geht unter, und das heruntergekommene Büro wirkt wie eine letzte Zuflucht in Klaus Schumachers Inszenierung von „Du blöde Finsternis!“. Als ein von außen begehbarer Kasten steht es auf der Bühne, eine Bretterbude der Hoffnung, in der vier Menschen dem Rest der Welt und einander beistehen. Frances, Joey, Jon und Angie streiten und vertragen sich, sie trösten und helfen einander – und teilen kleine Freuden wie Donuts. Rührende Bilder, die immer wieder aufgelockert werden durch komische Momente, etwa das gleichzeitige Führen von Gesprächen untereinander und am Telefon. Das Ensemble hält Tragik und Komik in Balance und lässt die Figuren auf eine Art lebendig werden, dass man wünscht, sie blieben noch lange auf dieser Welt. Während das Stück auf sein Ende zusteuert, dringt auch die Zerstörung von außen immer mehr in den Schutzraum ein, der zerlegt wird. Doch die Leitungen funktionieren noch, es gibt Kerzen und Songs, wie „Blackbird“ von den Beatles, die man gemeinsam singen kann. SamSteiner wollte „ein optimistisches Stück über den Weltuntergang“ schreiben. Optimistisch ist es insofern, als dass es uns einen Weg zeigt, mit Gefühlen von Ohnmacht, Trauer und Angst umzugehen, die einen in unserer von Katastrophen gebeutelten Zeit überwäl- tigen können: Atmen, weiterleben, füreinander da sein. Text: Katharina Manzke 22.–25. FEBRUAR UND WEITERE TERMINE; Junges Schauspielhaus Kulturlaub mit der MIT DER NDR KULTUR KARTE ZU ERMÄ ß IGTEN PREISEN KULTUR IN NORDDEUTSCHLAND ERLEBEN. Mehr erfahren unter ndrkulturkarte.de Der Geschmacksträger für Hamburg Anonym.Kritisch.Unabhängig www.genussguide-hamburg.com ESSEN+TRINKEN SPEZIALNR.35 2022/2023 |€14,80 ISBN978-3-946677-78-9 Durchhalten! Corona,Krieg, Kosten:Gastroam Scheideweg? Super Stullen WoHamburg frühstückt GutSchluck BesteBars, Brauereien undWeinläden imCheck Moin,Welt So international undvielfältig is(s)tHamburg Top Neueröffnungen undmehrals 700Restaurants imTest Genuss-Michel DerHamburger Gastropreis Titelseite.indd 1 16.06.22 13:00 genussguide-hamburg.com Auch ONLINE shop.szene-hamburg.com GastroGuide_105x148.indd 1 18.10.22 18:00 21

RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz