hamburg:pur Februar 2023
Bei euch können Jugendliche sich auch als Theateragenten betätigen … Massmann: Die Theateragent:innen bilden eine offene Gruppe, der man sich jederzeit anschlie- ßen kann, wenn man theaterinteressiert ist, aber nicht unbedingt spielen möchte. Man sieht dann, welche Menschen außer Schauspieler:in- nen noch am Theater beschäftigt sind. Kürz- lich haben wir uns auch eine Inszenierung an- geschaut und darüber gesprochen, wie man eine Rezension schreibt. Beim nächsten Tref- Jugendliche sind auch sehr lange bei uns. Ich hatte Spieler:innen, die mit elf Jahren ans Theater gekommen und geblieben sind, bis sie 21 waren. Wie sieht die Arbeit in deinen beiden „Per- formance“-Jugendclubs aus? Lundbeck: Oft haben wir ein Spielzeitthema, mit dem alle Gruppen arbeiten. Daran anknüp- fend gebe ich Impulse oder Improvisations- auftakte in die Gruppe und reagiere auf das, was kommt. Wir arbeiten jeweils ein halbes Jahr bis zum Festival und haben wöchentliche Proben von zwei bis drei Stunden. Manchmal ist diese Arbeit auch an ein Stück gekoppelt oder an Texte, die die Schüler:innen selbst ge- schrieben haben. Was in den Gruppen passiert, ist oft sehr persönlich und führt dich mitunter ganz woanders hin, als du dachtest. Siehst du die Performance imRahmen eures Angebots als eine Vorstufe zum einstudier- ten Schauspiel oder als eigene Kunstform? Lundbeck: Wir machen keine reine Perfor- mance, sondern performatives Theater. Der Anteil der Performance besteht darin, dass wir meistens keine Rollen spielen, sondern die Darsteller:innen als Textträger fungieren. Das ist aber kein Zwischenschritt zum traditionel- len Schauspiel, sondern bietet für die Jugend- lichen einen absoluten Mehrwert. Es geht nicht darum, irgendwann namhafte Leute zu spielen, sondern sich selbst als namhaft zu begreifen, weil man sich mit der Welt beschäftigt. Wie lautet das aktuelle Spielzeitthema? Lundbeck: „Diversität“. Es ist ein zeitrelevan- tes Thema, das aber auch viele Fettnäpfchen bereithält. Weil meine Gruppe weniger divers ist, als ich mir es wünschen würde, versuchen wir, uns sehr abstrakt und auf Umwegen dem Thema zu nähern und mehr die Bilder als den Kopf sprechen zu lassen. Bilder können sehr viel erzählen und sind dem Herzen oft näher als ein Text, der über den Verstand geht. Auch wenn Abstraktionen den Jugendlichen zu- nächst fremd sind, weil sie im Alltag eher mit realistischen Darstellungsformen wie dem Film konfrontiert sind. Entwickeln alle Jugendclubs ihre Stücke frei? Massmann: Die meisten. Nur der „Jugendclub Schauspiel“ erarbeitet ein vorgegebenes Groß- projekt und probt zweimal wöchentlich. Aktu- ell proben wir „Europa flieht nach Europa“ von Miru Miroslava Svolikova. Der Text bildet das Grundgerüst, wobei die Jugendlichen viele eigene Ideen in die Inszenierung einbringen. Ihr arbeitet auch mit Schulen zusammen … Lundbeck: In diese Inszenierung sind sechs Schulklassen mit Jugendlichen eingebunden, die bisher kaum Theatererfahrungen haben. Sie proben in ihren jeweiligen Schulen und kommen erst am Schluss zu einer gemeinsa- men Probewoche ins Ernst Deutsch Theater. Beim plattform-Festival stehen dann 120 Men- schen gemeinsam auf der Bühne. Das erlebt man sonst wohl nur in der Staatsoper. Foto: Gesche Lundbeck Foto: Finn Westphal THEATER Gesche Lundbeck Mia Massmann 18 THEATER fen bringt dann jeder seine eigene Kritik mit. So erfahren wir, wie junge Menschen unsere Stücke im Spielplan wahrnehmen. Fällt den Jugendlichen bei so vielen Gruppen die Auswahl nicht schwer? Lundbeck: Da die Bewerber:innen uns schrei- ben, was sie am Theater besonders interes- siert, gucken wir auch immer, welche Gruppe für wen am besten passt. Außer beim „Jugend- club Schauspiel“ gibt es bei uns ja kein Cas- ting. Massmann: Die ersten drei Treffen sind dann zumHineinschnuppern gedacht. Danach muss man verbindlich zu- oder absagen, wobei unser Angebot komplett kostenfrei ist. Wir wollen das Theater für jede Person öffnen, ohne dass ein weiterführender Anspruch dahinter steht. Na- türlich freuen wir uns, wenn ehemalige Jugend- clubteilnehmer:innen später auch in unseren regulären Produktionen auf der Bühne stehen, aber wir sind keine Ausbildungsstätte. Lundbeck: Wir bewerten auch niemanden. Es geht nicht darum, eine Technik zu erlernen und etwas perfekt auszuführen, sondern seine Meinungen über die Welt auszudrücken, in der Gemeinschaft über Themen zu sprechen und mit aufrichtigen Gefühlen bei der Sache zu sein. Haben die Corona-Jahre in den Jugendclubs Spuren hinterlassen? Massmann: Auf jeden Fall. Da sehe ich eine besorgniserregende Veränderung, bei der das Theater aber gegensteuern kann: durch eine kontinuierliche Arbeit mit Menschen und Kunst. Durch das Sprechen über Probleme, die vorher schon da waren, jetzt aber wie durch ein Brennglas noch dringlicher und persönli- cher geworden sind. Da bekommt das Thea- terspiel fast eine Therapiefunktion. Lundbeck: Während der Lockdowns haben wir kontinuierlich per Zoom oder in kleinen Grup- pen weitergearbeitet. Aber wir haben sehr viele junge Menschen, denen es nicht gut geht, was leider zu wenig mediale Aufmerksamkeit fin- det. Auch die Zuverlässigkeit der Teilneh- mer:innen hat gelitten. Man schiebt die Dinge auf und sagt schneller ab, wenn es mal ein bisschen imHals kratzt. Ummanche Jugend- liche mache ich mir wirklich Sorgen. Es sind ja meistens sehr sensible Menschen, die am Theater landen. Was erwartet uns beim plattform-Festival? Massmann: Zur Eröffnung treten erstmals sechs Jugendclubs mit ihren sehr unterschied- lichen Arbeiten auf. Es gibt Bühnenführungen, einen Schauspielworkshop für Schulklassen und eine Kooperation mit demBackstage-Ju- gendclub des Schauspielhauses, der Auffüh- rungen bei uns zeigt. Außerdem veranstalten wir einen Song-Contest und zum Abschluss unser Jugendgroßprojekt. Lundbeck: Das Festival ist aber nur die Zwi- schenbilanz eines Prozesses, der selbst noch viel interessanter ist und sich bis zum Ende der Spielzeit fortsetzt. Interview: Sören Ingwersen 22.–25. FEBRUAR; Ernst Deutsch Theater; plattform-Festival DE LEVEN ÖLLERN KOMÖDIE VON EMMANUEL & ARMELLE PATRON 15.1. – 26.2.2023 Foto: Sinje Hasheider
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