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FILM Foto: The Walt Disney Company Foto: Weltkino Nightmare Alley Unvergessliche, gruselig-faszinierende Bilder sind sein Marken- zeichen – und so bietet Oscar-Preisträger Guillermo del Toro („The Shape of Water“) auch in seinem neuen Werk „Nightmare Alley“ schöne und zugleich schaurig-finstere Bilder, wenngleich sie dies- mal stärker der Realität verhaftet sind. Erzählt wird die Geschichte von Stanton Carlisle (Bradley Cooper), einem charismatischen, zwielichtigen Einzelgänger und Gauner, der sich auf der Flucht befindet und sich in der Zeit der Großen Depression einemReisezirkus anschließt. Dort lernt er unter an- derem die Hellseherin Zeena (Toni Collette) und ihren Mann und Mentalisten Pete (David Strathairn) kennen, die ihn in der Kunst der Täuschung und Manipulation unterweisen. Stanton wittert seine Chance und nutzt das erlernte Wissen, um gemeinsammit der Zirkusartistin Molly (Rooney Mara) in die Großstadt der 1940er- Jahre zu ziehen und der feinen Gesellschaft mit allen Mitteln der Kunst das Geld aus den Taschen zu ziehen. Bis er auf die myste- riöse Psychiaterin Lilith Ritter (gespielt von der zweifachen Os- car-Gewinnerin Cate Blanchett) trifft und von der Idee besessen ist, einen ihrer mächtigen Patienten, den Tycoon Ezra Grindle (Ri- chard Jenkins), ebenfalls um dessen Geld zu erleichtern. Um sein Ziel zu erreichen, willigt er ein, einige Psychoanalyse-Sitzungen von Dr. Ritter über sich ergehen zu lassen … Der mit großer Starbesetzung aufwartende FilmNoir um Betrug, Hybris und Selbsttäuschung basiert auf dem gleichnamigen Ro- man von William Lindsay Gresham und überzeugt durch eine dich- te, visuell imposante Atmosphäre (Kameramann: Dan Laustsen) sowie die Intensität der Darstellung. Trotz leichter Länge verliert der Film zu keiner Zeit an Spannung. Die Charaktere wirken glaub- haft, verzweifelt versuchen diese zwischen Illusion und Realität, Verzweiflung und Kontrolle, Erfolg und Tragödie zu unterschei- den. Es bleibt die Erkenntnis, dass die Realität gruseliger sein kann als so manche mystische Fantasiewelt. „Sie täuschen nicht die Menschen“, sagt Dr. Lilith Ritter in einem zentralen Dialog fast vergnügt, „die Menschen täuschen sich selbst.“ Wer diesen Film enttäuscht verlässt, täuscht sich auch. (mag) AB 20. JANUAR USA 2021; 139 Min.; R: Guillermo del Toro; D: Bradley Cooper, Cate Blanchett, David Strathairn ★★★★ ★ Ballade von der weißen Kuh Ein letztes Mal noch darf Mina (MaryamMoghaddam) ihren Mann Babak im Gefängnis besuchen, bevor dieser hingerichtet wird. Unaufdringlich folgt die Kamera ihr durch die grauen Flure eines iranischen Gefängnisses, um dann vor seiner Zellentür Halt zu machen. Das schmerzvolle Schluchzen reicht, um dem Zuschau- er unmittelbar zu Beginn einen Schlag zu versetzen. Das ist eine der Stärken des Films „Ballade von der weißen Kuh“, der es ver- steht, Grausamkeiten eindrücklich zu erzählen, ohne sie explizit zeigen zu müssen. Minas Ehemann und Vater ihrer gemeinsamen Tochter Bita ist wegen Totschlages verurteilt worden von einem System, das eisern an der Todesstrafe festhält. Ein Jahr nach dem Vollzug des Urteils kommt die erschütternde Nachricht: Ihr Mann war unschuldig, seine Hinrichtung eine juristische Fehlent- scheidung. In ihrer schier endlosen Verzweiflung steht eines Tages unverhofft ein Mann (Alireza Sanifar) vor ihrer Tür, der behauptet, Babak Geld geschuldet zu haben. Er bietet der alleinerziehenden Mutter seine Hilfe an. Die vorerst verwunderte Mina lässt den stillen, in sich gekehrten Mann schließlich nach und nach in ihr Leben – unwissend, dass er ein Geheimnis birgt … Das Regieduo, bestehend aus der Hauptdarstellerin und ihrem Partner Behtash Sanaeeha, hat mit diesem feinfühligen Film ganz großes iranisches Kino geschaffen. Die beiden zeichnen das Bild eines Landes, das einerseits moderne staatliche Strukturen vor- weist, andererseits mit einem theokratischen, frauenfeindlichen Rechtssystem aufwartet. Der Film schildert die Folgen eines ka- tastrophalen Justizirrtums inmitten dieses Systems und verleiht seinen Opfern eine Stimme: den Hinterbliebenen unschuldig hin- gerichteter Menschen, aber auch Amtsträgern, die zu Schuldigen werden und elendig daran zerbrechen. Symboltracht, Subtilität und visuelle Stärke kennzeichnen den Film und transportieren deutliche Kritik. Das zeigt sich insbesondere am Ende des Films, das alle drei Aspekte vereinigt und – nicht zuletzt dank der her- vorragenden Hauptdarstellerin – ganz ohne eine finale Konfron- tation auskommt. (rk) AB 3. FEBRUAR IR/F 2020; 105 Min.; R: MaryamMoghaddam und Behtash Sanaeeha; D: MaryamMoghaddam, Alireza Sanifar, Pourya Rahimisam ★★★★ ★ 38 Foto: eksystent Filmverleih FILM Der Mann, der seine Haut verkaufte Unglaublich, aber wahr: Das riesige Tattoo, das der belgische Künstler WimDelvoye auf den Rücken des Schweizers TimSteiner gestochen hatte, wurde 2008 an den Hamburger Sammler Rik Reinking verkauft. Der Abnehmer darf Steiner als Kunstobjekt ausstel- len, die Bemalung verkaufen. Und nach seinem Tod steht es Reinking zu, den Rücken zu häuten und ein- zurahmen. Bizarre Begebenheiten, die der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania als Inspirationsquel- le für ihren jüngsten Spielfilm dienten, der das Ganze allerdings um einen hochpolitischen Aspekt erweitert. Im Mittelpunkt von „Der Mann, der seine Haut ver- kaufte“ steht der Syrer Sam Ali (Yahya Mahayni), der im Jahr 2011 nach einer Verhaftung vor dem Krieg aus seiner Heimat flieht. In der libanesischen Hauptstadt Beirut hält er sich gerade so über Wasser. Seinen Traum, nach Belgien zu gehen, um seine frühere Freundin Abeer (Dea Liane) wiederzusehen, kann er sich nicht erfüllen. Doch dann begegnet er dem Starkünstler Jeffrey Godefroi (Koen De Bouw), der Sams Rücken mit einer großen Nachbildung des europäi- schen Schengen-Visums verzieren und dem lebenden Kunstobjekt das Reisen ermöglichen will. Der Syrer willigt ein, begibt sich aber in ein zermürbendes Abhängigkeitsverhältnis. Mit seinem satirisch-entlarvenden Blick auf die elitäre Kunstwelt weckt Ben Hanias Drama Erinnerungen an Ruben Östlunds Museumsfarce „The Square“. Indem der Film den prunkvollen Rahmen der Vernissagen Foto: Wild Bunch Germany Ostdeutsche Provinz zehn Jahre nach demMauerfall. Werte wie Nähe und Geborgenheit bedeuten Gudrun (fantastisch: Corinna Harfouch) nichts. Dass Tochter Lara (Birte Schnöink) sich von ihr vernachlässigt fühlt, empfindet die Mathematik- und Sportlehrerin eher als lächerlich. Hatte das Kind doch ein Dach über dem Kopf und immerhin auch El- tern, während sie selbst imKinderheim aufgewachsen war. Und genau dort, in dem ehemaligen Kinderheim der DDR, einem alten verfallenen Herrenhaus, wird an diesem Abend mit vielen Freunden aus dem Dorf ihr 60. Geburtstag gefeiert. 39 mit demSchicksal eines Flüchtlings verbindet, wirft er brennende Fra- gen auf: Wie weit darf Kunst gehen? Können auch gute Absichten ver- werflich sein? Wo beginnt Menschenhandel? Und wie selbstverständ- lich ist die persönliche Freiheit? Auch wenn gegen Ende einige hektische Wendungen über den Zuschauer hereinbrechen – die ungewöhnliche Geschichte, die in ein mit Spiegelungen und Unschärfen spielendes Bildkonzept eingebettet ist, hat ihren Reiz und besitzt eine Ambivalenz, über die man trefflich nachdenken und diskutieren kann. (cd) AB 24. FEBRUAR TUN, F, BEL, D, S 2020; 104 Min.; R: Kaouther Ben Hania; D: Yahya Mahayni, Dea Liane, Monica Bellucci ★★★ ★★ Wer ihr wirklicher Vater ist, weiß Lara bis heute nicht, ein Stiefvater musste genügen als Puffer gegen die trotzige Lieblosigkeit der Mutter, die schon mit beiläufigen Bemerkungen Menschen zutiefst verletzen kann. IhremSpott, der Häme und ihrer unerträglichen Selbstüberschät- zung steht der Zuschauer ähnlich hilflos gegenüber wie die Tochter. An diesemAbend erfährt Gudrun, dass das Kinderheim an finanzkräf- tige Investoren verkauft werden soll. Eine Chance für die struktur- schwache Region oder Ausverkauf der eigenen Geschichte? Für die Protagonistin bricht eine Welt zusammen, hatte die DDR ihr doch die Familie ersetzt, ein Zuhause gegeben. Gudrun beginnt einen verzwei- felten, selbstzerstörerischen Kampf gegen die Entscheidung des Lo- kalpolitikers. Vergeblich. Lara macht sich derweil auf die Suche nach ihrem Vater und den Gründen für die unnachgiebige Härte der Mutter. Die verstörende Mutter-Tochter-Beziehung inszeniert Katharina Marie Schubert als Reflektion einer Gesellschaft imUmbruch, voller Geheim- nisse, Widersprüche und Altlasten. „Das Mädchen mit den goldenen Händen“ erinnert in den Farbschattierungen seiner drei Kapitel an die Filmtrilogie „Drei Farben: Blau – Weiß –Rot“ (1993 und 1994) des pol- nischen Drehbuchautors und Regisseurs Krzysztof Kieślowski, eines der großen Vorbilder von Schubert, auch bei Kieślowski geht es um Scheitern oder Überleben. Hoffnungen und Enttäuschungen prallen in der ostdeutschen Tristesse aufeinander. Brillant Corinna Harfouch, die als Antiheldin nichts an Charisma einbüßt, auch wenn sie sich bis zur Lächerlichkeit erniedrigt. Ein gelungenes Langfilmdebüt. (ag) AB 17. FEBRUAR D 2021; 103 Min.; R: Katharina Marie Schubert; D: Corinna Harfouch, Birte Schnöink, Peter René Lüdicke ★★★ ★★ Das Mädchenmit den goldenen Händen

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