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Foto: Focus Features/Universal Pictures FILM AUTOFIKTIONALER RÜCKBLICK Kindheits-Idyll im Bürgerkrieg Der in der nordirischen Stadt Belfast geborene Schauspieler und Regisseur Kenneth Branagh inszeniert in dem gleichnamigen Film („Belfast“) gekonnt seine eigenen Erinnerungen aus der Zeit des Bürgerkrieges: liebevoll, träumerisch, aufwühlend und herzerwärmend Generationen gemeinsam demSechzigerjah- re-Straßenfeger „Tschitti Tschitti Bäng Bäng“ hingeben, im fliegenden Auto über eine Klippe springen und einen Rundflug übers Meer ma- chen, überstrahlen für einen Moment leuch- tende Farben das ausweglose Schwarz-Weiß der echten Welt. Branagh schildert eine fami- liäre Zerreißprobe durch die verklärte Brille eines Kindes. Das ist zwar zuweilen etwas betulich inszeniert, aber nicht zuletzt dank überzeugender Darsteller durchgehend herz- erwärmend. Text: Calle Claus AB 24. FEBRUAR GB 2021; 98 Min.; R: Kenneth Branagh; D: Caitríona Balfe, Judi Dench, Jamie Dornan ★★★★ ★ hamburg: pur Aktion! Für die Preview des Films „Belfast“ (OmU) am 21.2., 20 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „pur:Belfast“ an verlosung@szene- hamburg.com ; Einsendeschluss: 15.2. bitzt Süßigkeiten aus dem Eckladen, verliebt sich in eine (katholische) Klassenkameradin und guckt imKino mit Vorliebe Western. Dass um ihn herum ein realer „High Noon“ tobt, rea- lisiert er eher am Rande. Der Film teilt seinen bewundernden Blick auf die Eltern: Papa (Ja- mie Dornan) und Mama („Outlander“-Star Cai- tríona Balfe) sehen aus wie ein Hollywood- Traumpaar, irgendwie zu hübsch für ihre ärm- liche Arbeitersiedlung. Buddys Vater pendelt als Lohnarbeiter nach England. Er versucht den Rest der Familie zu überzeugen, mit ihm ins sichere Nachbarland überzusiedeln. Doch vor allemBuddys liebevoll gezeichnete Großeltern (hinreißend: Judie Dench und Ciarán Hinds) weigern sich strikt, die heimatliche Scholle zu verlassen. Einziger Fluchtort, auf den sich alle einigen können, ist das Kino. Wenn sich drei Der britische Schauspieler und Regisseur Ken- neth Branagh wurde 1960 in Belfast geboren. Die filmische Reise in seine Vergangenheit in- szeniert er als in Schwarz-Weiß gehaltenes Kindheits-Idyll, dem der Lauf der Welt aller- dings Risse zufügt. Im August 1969 tobt Bud- dy (Jude Hill), Branaghs Alter Ego, inmitten einer fröhlichen Schar von Nachbarskindern durch seine Straße, wo seine protestantische Familie mit Katholiken Tür an Tür lebt. Plötz- lich beginnt ein wütender Mob, Häuser in Brand zu setzen, um das Viertel zu „reinigen“. Es ist der Beginn des bis heute schwelenden Kon- fliktes zwischen pro-englischen Loyalisten und Republikanern, der im Fahrwasser des Brexit gerade neu auflodert. Während sich um ihn herum der Bürgerkrieg ausbreitet, geht Buddy dem Leben eines Neunjährigen nach: Er sti- 36 37 Gab es beim Schreiben oder Drehen je Momente, wo Ihnen die Sache zu persönlich wurde? Nicht für mich, aber andere Leute hatten die Sorge. Ein paar Menschen in meinem engeren Umfeld lasen das Drehbuch und fanden, dass ich zu weit gehe und an einigen Stellen Erinne- rungen teile, die zu privat sind. Allerdings wusste ich natürlich, dass das Publikum am Ende gar nicht genau weiß, was Fakt und was Fiktion ist. Und was heißt schon Fakt, wenn man mit 50 Jahren Ab- stand versucht, sich in einen Neunjährigen hi- neinzuversetzen?! Ab- gesehen davon waren bei der Umsetzung der Geschichte dann ja an- dere Menschen betei- ligt, was automatisch einen gewissen Ab- stand zu meiner Bio- grafie mit sich brachte. Ich war immer offen für Ideen und Änderungswünsche, sei es vom Kameramann oder meinem Ensemble, um die Geschichte über meine persönlichen Erinne- rungen hinaus weiterzuentwickeln. Besagter Neunjähriger steht uneinge- schränkt im Zentrum von „Belfast“. Wie schwierig gestaltet sich da die Suche nach dem geeigneten Darsteller? Sehr schwierig, denn natürlich stand und fiel damit alles. Ohne den richtigen Jungen hätte sich diese Geschichte nun einmal nicht erzäh- len lassen. Entsprechend nervös war ich selbst, nachdemwir uns für Jude Hill entschieden hat- ten. Die ersten beiden Drehtage guckte er im- mer wieder in die Kamera – und ich fürchtete, FILM Foto: Focus Features/Universal Pictures KENNETH BRANAGH „Es gibt in Belfast keine größere Sünde, als sich selbst zu ernst zu nehmen“ Regisseur Kenneth Branagh erzählt, wie viel der eigenen Biografie in „Belfast“ steckt und wie schwierig die Suche nach dem richtigen neunjährigen Hauptdarsteller war wir hätten einen großen Fehler gemacht. Doch zum Glück legte sich das – vor allem, je mehr andere Personen in den Szenen mit ihm auftraten. Noch ein paar Tage später wusste ich, dass ich es kaum besser hätte treffen können. Sie haben dann später nie wieder in Belfast gelebt. Steckt heute noch etwas von Ihrer Geburtsstadt in Ihnen? Klar, man kriegt den Jungen zwar aus Belfast heraus, aber nicht Belfast aus dem Jungen. Ich glaube, mein Sinn für Humor und mein Blick aufs Leben sind bis heute typisch für die Stadt. Es gibt in Belfast keine größere Sünde, als sich selbst zu ernst zu nehmen, das habe ich sehr verinnerlicht. Auch die Angewohnheit, nicht einmal in den dunkelsten Momenten meinen Humor zu verlieren, verdanke ich sicher mei- ner Heimat. Das lernte man in Belfast nämlich schnell. Interview: Patrick Heidmann Kenneth Branagh, man kennt Sie normaler- weise als Shakespeare-Experten und Block- buster-Regisseur. Warum nehmen Sie sich mit „Belfast“ nun erstmals Ihres eigenen Le- bens an? Kenneth Branagh: Man redet sich als Regis- seur ja immer ein, dass jeder Film irgendwie ein ganz persönlicher ist. Aber natürlich ist ein Film über meine Heimatstadt noch einmal et- was ganz anderes. Dass ich mich der einmal widmen will, reifte als Idee in mir schon seit Längerem. Ich wusste nur lange nicht genau, welche Geschichte ich eigentlich erzählen will. Klarheit verschaffte mir dann ausgerechnet der erste Corona-Lockdown 2020. Der ließ mich an den ersten Lockdown in meinem Le- ben denken, damals, als unsere Straße in Bel- fast während der Unruhen abgeschottet wurde. Plötzlich war alles von damals wieder ganz klar und greifbar, die Geräusche und die Gerüche. Mit einemMal erschien es mir, dass ich damals als Neunjähriger eigentlich das letzte Mal wusste, wer ich wirklich bin. Und prompt schrieb sich das Drehbuch fast von selbst.
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