hamburg:pur Januar 2024
Foto: A24/The Match Factory FILM Priscilla Die 14-jährige Priscilla Beaulieu (Cailee Spaeny) lebt 1959 fern ihrer amerikanischen Heimat in West-Deutschland, wo ihr Stief- vater als Offizier der U.S. Air Force stationiert ist. Als sie in einem Café gefragt wird, ob sie Rock ’n’ Roll-Superstar Elvis Presley ken- ne und bei einer seiner Partys dabei sein möchte, antwortet sie schüchtern, dass sie erst mal ihre Eltern fragen müsse. Mit etwas Überredungskunst gelingt es, auf der Feier dabei zu sein. Sie und Elvis (Jacob Elordi) kommen ins Gespräch und spüren – trotz des Altersunterschieds – eine Verbundenheit. Als der King of Rock ’n’ Roll wieder in die Heimat aufbricht, bleibt Priscilla traurig zurück, bis der erlösende Anruf kommt, der ihr den Weg in das traumhafte Anwesen Graceland in Memphis, Tennessee ebnet. Die junge Pris cilla lebt fortan in einer Märchenwelt. Diese entpuppt sich schon bald als ein bittersüßes „Heartbreak Hotel“ … „Priscilla“ erinnert ein wenig an Coppolas frühen Film „Marie An- toinette“ (2006). Hier wie dort steht eine junge Frau imMittelpunkt, die in einer Glitzerwelt gefangen ist; hier wie dort wird die histo- rische Zeit optisch imposant eingefangen und musikalisch um moderne Elemente angereichert. Die erste Hälfte des Films ist meisterhaft inszeniert: Kameramann Philippe Le Sourd („The Grandmaster“) taucht das Geschehen in traumhaftes Licht. Die Handlung wird gekonnt in Szene gesetzt und lässt einen behut- sam in die darunter liegende emotionale Welt eintauchen. Das ist auch der großartigen Darstellerin Cailee Spaeny („Die Berufung – Ihr Kampf für Gerechtigkeit“) zu verdanken. Zwischen Liebe, Sehnsucht, Eifersucht, Faszination, Ehrgeiz, Kontrolle, Klaustro- phobie und Freiheitsdrang hin- und hergerissen bricht zwar die Beziehung, aber die Liebe zwischen den beiden bleibt. So verlässt man den Film schlussendlich, wie Priscilla Graceland verlässt: traurig, aber mit demGefühl, großemKino beigewohnt zu haben. (mag) AB 4. JANUAR USA 2023; 113 Min.; R: Sofia Coppola; D: Cailee Spaeny, Jacob Elordi, Ari Cohen ★★★★★ Foto: Searchlight Pictures Next Goal Wins Oscar-Preisträger Taika Waititi lässt es in seinen Filmen gern auf originelle Art bunt und überdreht krachen. Das war in seiner Mar- vel-Verfilmung „Thor: Tag der Entscheidung“ bereits so und wurde zuvor im Falle seines Erfolgsfilms „Jojo Rabbit“ mit einem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet. Sein neuester Streich „Next Goal Wins“ über eine Fußballmannschaft aus Ame- rikanisch-Samoa steht insofern in der gleichen Tradition. Um der erfolglosesten Fußballmannschaft der Welt wieder Leben einzuhauchen, entscheidet sich Verbandschef Tavita (Oscar Kight- ley) einen abgehalfterten Trainer aus der amerikanischen Soc- cer-League zu engagieren. Das Ziel: Beim bevorstehenden WM- Qualifikationsspiel soll mindestens ein Tor geschossen werden. Dieses Wunder soll Thomas Rongen (Michael Fassbender) voll- bringen, ein Startrainer, der sich auf dem absoluten Tiefpunkt seiner Karriere befindet, zu Wutausbrüchen neigt und demAlko- hol zugetan ist. Zunächst gelingt es ihm nicht, dieser chaotischen, aber sympathischen Truppe Disziplin beizubringen. „Für die ist das nur eine Art Spiel!“, berichtet er seiner Ex-Frau Gail (Elisabeth Moss), die trocken entgegnet: „Es ist ein Spiel, Thomas.“ Um den gemeinsamen Traum zu verwirklichen, müssen nun alle an einem Strang ziehen. Als Schlüssel hierzu entpuppt sich das sensible transsexuelle Teammitglied Jaiyah (Kaimana). Als sich der Trainer der polynesischen Kultur gegenüber öffnet und das Vertrauen zueinander wächst, kommt das alles entscheidende Match … Zwar erinnert die Ausgangssituation des Films stark an die Apple- Erfolgsserie „Ted Lasso“, bei der ein ebenfalls aussortierter Trai- ner eine Verlierer-Mannschaft mit jeder Menge Humor und Weis- heit wieder auf Siegeskurs bringt. Und doch trägt „Next Goal Wins“ unzweideutig Waititis Handschrift. Mit Freude und Vergnügen ge- lingt es dem neuseeländischen Filmemacher, einen unterhaltsa- men Feel-Good-Film auf die Leinwand zu bringen, der durch Mi- chael Fassbender („Prometheus – Dunkle Zeichen“) neben aller Komik stellenweise auch durch emotionale Tiefe überzeugen kann. Die glücklose Fußballmannschaft von Amerikanisch-Samoa bie- tet jede Menge Raum, um eigene Erfahrungen mit Niederlagen hineinzuinterpretieren. Mal gewinnt man, mal verliert man. Ent- scheidend ist die Freude am Spiel. (mag) AB 4. JANUAR USA/GB 2023; 103 Min.; R: Taika Waititi; D: Michael Fassbender, Elisabeth Moss, Oscar Kightley ★★★★★ 24 25 Foto: Studiocanal Foto: Splendid Film FILM Animalia Nur für einen Augenblick will „Animalia“ seine Zuschauer glauben lassen, es handele sich um eine etablierte Science-Fiction-Er- öffnung: Ein anormales Ereignis bricht über den drögen Alltag einer Familie herein – die Apokalypse nimmt ihren Lauf. Kurz da- rauf deutet sich jedoch an, dass das „Anormale“ längst Teil des Alltags von Menschen wie dem 16-jährigen Emile (Paul Kircher) ist, der gemeinsammit Vater François (Romain Duris) seine Mut- ter im Krankenhaus besucht. Close-ups und dialogische Andeu- tungen erzählen von mysteriösen, tierähnlichen Mutationen, mit denen auch Emiles Mutter stationär behandelt wird. In der Hoff- nung, ihr wieder nah sein zu können, ziehen Vater und Sohn raus aus der Stadt an den Rand der Wälder, wo nun ein Zentrum für die „Kreaturen“ eröffnen soll. Doch der Transport mitsamt Mutter verunfallt auf demWeg dorthin, einige der Mischwesen verschwin- den im Dickicht des Waldes – sehr zum Unmut der örtlichen Ge- meinde. Inmitten der aus Angst gespeisten Hetze gegen „die Bes- tien“ versucht Emile an seiner neuen Schule Fuß zu fassen, als sich sein Körper zu verändern beginnt … „Animalia“ ist vieles in einem: eine rührende Vater-Sohn-Geschich- te, ein mystisches Coming-of-Age-Drama, ein Meisterwerk des Prosthetic makeup und schließlich: ein Fest der Vielfalt und Menschlichkeit. Regisseur Thomas Cailley gelingt gemeinsammit Cast und Crew (insbesondere den Maskenbildnern) ein entwaff- nender Blick auf das „Fremde“ entgegen der Narrative so vieler Hollywood-Endzeitfilme. Mehr noch: Nur selten mutet ein Film seinen Zuschauern so viel zu, während er gleichzeitig vor Lebens- freude nur so sprüht. Getragen wird diese ungewöhnliche Stim- mung vom beeindruckenden Spiel des Nachwuchsdarstellers Paul Kircher, der als Emile eine Metamorphose durchlebt, die im Kino ihresgleichen sucht. „Animalia“ bedeutet auf Latein „alle lebenden Geschöpfe; Tiere und Menschen“. So reich wie die Welt der Tiere und Menschen, so viel gibt es zu entdecken in diesem Film, den man am liebsten gleich ein zweites Mal anschauen möchte. (rk) AB 11. JANUAR F 2023; 118 Min.; R: Thomas Cailley; D: Roman Duris, Paul Kirchner, Adèle Exarchopulos ★★★★★ Baby to go Eine nicht allzu entfernte Zukunft in New York: Rachel (Emilia Clarke), aufstrebende Managerin eines Tech-Unternehmens, und Alvy (Chiwetel Ejiofor), Biologe, leben in einem schicken Apart- ment. Die Künstliche Intelligenz durchzieht alle Bereiche des Le- bens. Der technologische Komfort hat die gesamte Gesellschaft erfasst: Die Technik plant den Alltag, organisiert die Einkäufe, checkt den Gesundheitszustand, therapiert die Psyche. Die Na- tur wird nur noch als störend und unberechenbar angesehen. Kurzum: Das dritte Auge wacht über alles. Selbst Schwanger- schaften werden nicht mehr dem Mutterleib und somit den Zu- fällen der Natur überlassen: Babys können in einem sogenannten „Pod“ – eine hochmoderne eiförmige Kapsel – herangezüchtet werden. Um ihre minutiös überwachte Karriere nicht zu gefähr- den und die Strapazen einer Schwangerschaft zu vermeiden, mel- det sich Rachel, ohne ihren Mann zu informieren, imGeburtszen- trum an und stellt damit ihre Beziehung auf die Probe … Mit „Baby to go“ wagt Regisseurin Sophie Barthes („Cold Souls“) den Blick in die Zukunft. Mit ironischem Unterton nähert sie sich einer optisch perfekt wirkenden, im Kern aber zutiefst dystopi- schen Gesellschaft, in der die Technik jeden Winkel des Lebens sieht und kontrolliert – bis hin zur Geburt und der Seele des Men- schen. In einigen Szenen ist der CEO des Unternehmens „Pega- zus“ auf Bildschirmen zu sehen und preist seine technologischen Errungenschaften als Lösung für alles. Sein Grinsen wirkt dämo- nisch. Die Ähnlichkeit mit einem der derzeit führenden Techno- logieunternehmer ist nicht ganz zufällig. „Baby to go“ liegt ein faszinierender Grundgedanke zugrunde, der die gegenwärtige Entwicklung in die kommende Zeit projiziert und kritisch hinterfragt. Der Film ist mit Emilia Clarke („Game of Thro- nes“) und Chiwetel Ejiofor („Twelve Years a Slave“) zwar gut be- setzt, kommt aber aus einer leicht lethargischen Erzählweise nicht heraus. Es gelingt nicht, eine packende Dramatik oder eine über- zeugende Kontroverse zu entwickeln, die über die kaumwahrzu- nehmende Spannung des gezeigten Paares hinausreicht. Der Film wirkt wie der gezeigte „Pod“: außen sauber und faszinierend, aber im Kern nur durch eine dicke Scheibe einsehbar statt erfahrbar. (mag) AB 11. JANUAR GB 2023; 111 Min.; R: Sophie Barthes; D: Emilia Clarke, Chiwetel Ejiofor, Vinette Robinson ★★★★★
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz