hamburg:pur Januar 2024
Foto: 20th Century Studios/Atsushi Nishijima FILM FANTASYDRAMA Sündhafte Experimente In „Poor Things“ erzählt Regisseur Yorgos Lanthimos eine moderne, grotesk-skurrile Frankenstein- Erzählung mit einer brillieren- den Emma Stone in der Hauptrolle can Wedderburn (Mark Ruffalo) schleicht in ihre Gemächer, um die „Kind-Frau“ in die Ge- heimnisse körperlicher Liebe einzuweihen. Doch „furious jumping“, wie sie den Ge- schlechtsakt euphorisch tauft, reicht Bella schon bald nicht mehr aus. Sie will hinaus in die Welt. Wenn sie vom Dach ihres Elternhauses sehn- süchtig das viktorianische London überblickt, erblühen auf der bis dahin monochromen Lein- wand plötzlich die Farben. Wedderburn bietet an, mit Bella auf „Grand Tour“ zu gehen. Zu- sammen bereisen sie Städte wie Lissabon, Pa- ris und Alexandria. Die Machtverhältnisse des ungleichen Paares geraten im Laufe des Trips ordentlich ins Wanken. In einer mit Fantasy- Elementen garnierten Bilderbuchwelt, welche die Architektur Antonio Gaudís und die Filme Terry Gilliams evoziert, begegnet Bella nun allerlei inspirierenden Zeitgenossen, die ihre „Menschwerdung“ beeinflussen. „Poor Things“ ist nach „The Favourite“ (2018) die zweite Kol- laboration des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos mit Emma Stone. Die brilliert in einem schauspielerischen Parforceritt durch Bellas „Turbo-Vita“ von den Anfängen als krei- schender Porzellan-Crasher bis hin zur reflek- tierten Menschenkennerin und feministischen Philosophin. Text: Calle Claus AB 18. JANUAR USA 2023; 141 Min.; R: Yorgos Lanthimos; D: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe ★★★★★ hamburg:pur Aktion! Für den Start des Films „Poor Things“ (OmU) am 18.1.2024, 20 Uhr in den Zeise Kinos verlosen wir 10 x 2 Karten. E-Mail mit Name und Betreff „pur:Poor Things“ an verlosung@szene-hamburg.com ; Einsendeschluss: 14.1.2024 Zu Beginn ihrer spektakulären Heldenreise zer- trümmert Bella Baxter (Emma Stone) unter ekstatischen Glücksschreien Geschirr an den Wänden ihres Elternhauses. Dabei wuseln al- lerlei seltsame Haustiere um sie herum, Misch- wesen wie aus einemHieronymus-Bosch-Ge- mälde. Die zu Beginn nur in Babysprache brab- belnde junge Frau wächst im England des 19. Jahrhunderts völlig abgeschottet imHaus des genialen Mediziners Dr. Godwin Baxter (Wil- lem Dafoe) auf. Ihren durch Gesichtsnarben grausig entstellten Vormund nennt sie liebe- voll „God“. Dass dies mehr ist als die Koseform seines Vornamens, wird der Film bald offen- legen. Von unstillbarer Neugier getrieben, nimmt Bella eine rasante Entwicklung. Propor- tional zum Wachsen ihres Wortschatzes ver- fliegt ihre Naivität, zudem erwacht sexuelle Begierde. Dr. Baxters schmieriger Anwalt Dun- 22 23 Foto: Neue Visionen Filmverleih Foto: ADNP/TEN CINÉMA/GAUMONT/TF1 FILMS PRODUCTION-QUAD+TEN/Carole Bethuel FILM Lola Sussex, 1941. Bereits als Kinder haben die Schwestern Thoma- sina (Emma Appleton) und Martha (Stefanie Martini) ihre Eltern verloren, leben seither allein auf dem heruntergekommenen Familienlandsitz. Immer griffbereit ihre Bolex-Kamera. Die zwei filmen einander ständig, ob in der Badewanne oder beim Tanzen, als würden nur jene beweglichen Bilder verhindern, dass auch sie plötzlich für immer verschwunden sind. Martha ist impulsiv und romantisch, Thomasina eher introvertiert, brillant. Gemeinsam konstruieren die Schwestern eine Apparatur, die Fernseh-, Ra- dio- und Funkwellen aus der Zukunft abfangen kann. LOLA, so benannt nach der verstorbenen Mutter, eröffnet völlig neue Wel- ten wie die Popkultur der Sechzigerjahre. Die beiden Schwestern begeistern sich für David Bowie und seine Songs, noch bevor er geboren wird, sind versessen auf Stanley-Kubrick-Filme, bevor sie gedreht wurden. Die todsicheren Tipps bei Pferdewetten bleiben ohne böse Fol- gen, nicht aber das Eingreifen in den Verlauf des Zweiten Welt- kriegs: Mit abgefangenen Militärinformationen über die Luftan- griffe der Deutschen rettet LOLA anfangs Tausenden von Briten das Leben. Thomasina lässt sich als Heldin feiern, giert nach Macht, will den Verlauf der Geschichte verändern. Martha erkennt die Gefahr. Ihre Stimme knistert, knackt wie aus weiter Ferne, wenn sie ihre Schwester anfleht, mit demWahnsinn aufzuhören. Zu spät: David Bowie ist verschwunden, die Schwestern sind ent- zweit, im Stechschritt marschieren Nazis durch London. Der irische Regisseur Andrew Legge spielt in seiner Found-Foo- tage-Mockumentary virtuos mit Zeit und Wahrheit, Stil und Musik als Teil des Erzählprozesses. Er drehte auf 16mm im Format 4:3 Black Friday for Future Der hoch verschuldete Albert (Pio Marmaï) plant den Black Friday zu nutzen, um seine Schuldenlast zu verringern. Er stürmt in Rich- tung Elektronikgeschäft, um einen Flachbildschirm günstig zu erwerben und anschließend mit Gewinn auf eBay zu verkaufen. Doch eine spontane Demonstration junger gesellschaftskritischer Menschen macht ihm mittels einer Blockade fast einen Strich durch die Rechnung. Mit aller Macht quetscht er sich in das Ge- schäft und stellt sich dem Kampf gegen die kauffreudige Masse. Aus dem Deal wird aber nichts, da der Käufer Bruno (Jonathan und einem fast geisterhaftem Schwarz-Weiß, verwendete Vin- tage-Objektive und bearbeitete das Archivmaterial digital. Die Aufnahmen wirken körnig, zerkratzt, angesengt, aufgequollen. Faschistischer Elektropop ertönt: „The Sound of Marching Feet“, die Illusion der Science-Fiction-Farce ist grausig perfekt. (ag) AB 28. DEZEMBER IRL/GB 2022; 80 Min.; R: Andrew Legge; D: Stefanie Martini, Emma Appleton, Rory Fleck Byrne ★★★★★ Cohen) selbst in der Schuldenspirale steckt. Als die beiden sich unfreiwillig näher kommen, entdecken sie ihre prekäre Gemein- samkeit. Eher zufällig schließen sie sich den Umweltaktivisten an, deren Anführerin „Kaktus“ (Noémie Merlant) nicht nur wort- gewandt, sondern auch attraktiv ist. Schon bald erkennen die beiden, dass sie aus ihrer Mitgliedschaft Kapital schlagen könn- ten. Finden sie aus ihrer misslichen Lage heraus? Die für ihre Erfolgskomödie „Ziemlich beste Freunde“ (2011) be- kannten Filmemacher Olivier Nakache und Éric Toledano bleiben ihrer Linie treu, ernste Themen in warmherzige Komödien zu wan- deln. „Für uns muss der Ernst und die Brutalität unserer Zeit durch ein gemeinsames Lachen ausgeglichen werden, daher brauchten wir unbedingt eine Komödie“, so Nakache. Das ist gerade in Be- zug auf die hier angerissenen Themen – Klima und soziale Un- gleichheit – unterhaltsam und erfrischend. Und doch reicht der Film nicht an den besagten großen Hit von 2011 heran. Durch den gewählten Ansatz werden die Probleme zwar angeris- sen, aber eben nur angerissen. Dass zwischen einer umweltbe- wussten Stadt des totalen Verzichts und der damit kontrastie- renden „Geiz ist geil“-Mentalität eine andere Welt möglich ist, wird hingegen dem einen oder anderen Lacher untergeordnet. Das hat Unterhaltungswert und ist ein legitimer Ansatz, aber auch nicht viel mehr als das. Dennoch: Schon die Auftritte von Mathieu Amal- ric („The French Dispatch“) als kämpferischer und zugleich sün- diger Schuldenberater sind einen Kinobesuch wert. (mag) AB 28. DEZEMBER F 2023; 120 MIN.; Regie: Olivier Nakache & Éric Toledano. Mit Pio Marmaï, Jonathan Cohen, Noémie Merlant ★★★★★
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjI2ODAz