hamburg:pur Januar 2024

„ THEATER empfinde ich als problematisch. Wobei später ja gezeigt wird, welche Auswirkungen diese Liebe, von der Michael sich niemals lösen kann, auf sein Leben hat. Michael verliebt sich in eine Frau, von der er überhaupt nichts weiß … Hanna gelingt es immer, die Dinge so zu drehen, dass er sich schuldig fühlt und sich vor ihr er- niedrigt. Dass sie sich ihm nicht offenbart, ist Teil ihres Machtmissbrauchs. Viele Jahre später trifft er Hanna zufällig wie- der – angeklagt als ehemalige KZ-Wärterin in einemKriegsverbrecherprozess. Was bewirkt dieser Moment in Michael? Er versucht zu verstehen, warumHanna getan hat, was sie getan hat. Sobald er aber versteht, kann er sie nicht mehr schuldig sprechen. So nimmt er die Schuld auf sich, weil er Hanna ge- liebt hat. ImRoman heißt es: „Wenn ich mit dem Finger auf sie zeige, zeige ich gleichzeitig auf mich“. Hier knüpft sich an die individuelle Schuld die Frage der Kollektivschuld. Wenn man versucht, das alles genau zu durchdenken, be- kommt man einen Knoten im Gehirn. Bist du jemand, der sich in Vorbereitung auf eine Rolle eher nach außen hin abschottet, um die Figur aus dir selbst heraus zu entwi- ckeln? Oder bist du der Recherche-Typ? Hast du dir die Verfilmung des Stoffs mit Kate Winslet und David Kross angesehen? Ich habe mir den Film bisher noch nicht ange- schaut. Aber nicht, weil er mich beeinflussen würde. Auf mein intrinsisches Gespür für Figu- ren und Situationen kann ich mich ganz gut ver- lassen. Ich suche aber trotzdem überall nach Futter, ummich inspirieren zu lassen und meine innere Quelle aufzuladen. Über KZ-Aufseherin- nen wurde sehr viel geschrieben. Und auch der Analphabetismus von Hanna ist ein Thema, das ich aufarbeiten möchte. Wie hast du eigentlich wenige Jahre nach dei- nem Berufseinstieg die Corona-Zeit erlebt? Gab es Momente, in denen du an deiner Ent- scheidung, Schauspieler zu werden, gezwei- felt hast? Ich habe die Zeit ganz gut überstanden, das war ein riesiges Glück. Dabei hat mir das Alto- naer Theater sehr geholfen, weil es uns wei- terarbeiten ließ. Ich war finanziell abgesichert und konnte die zusätzliche Zeit gut nutzen. Ich habe wieder mehr Gitarre gespielt und meine frühere Leidenschaft für Physik wiederent- deckt. Diese Beschäftigungen mit anderen Din- gen und Themen halten mich als Schauspieler frisch und lebendig. Was reizt dich an der Physik? Ohne Fantasie und eine große Vorstellungs- kraft ist man in der Physik völlig aufgeschmis- sen, weil sie uns mit Dimensionen und Dingen konfrontiert, die uns imAlltag nicht begegnen. Da gibt es für mich auch eine Verbindung zum Theater. Ich freue mich sehr, dass ich dieses kleine Spielzeug zu Hause habe, das für mich eine Art Inspirationsquelle ist. Manche Men- schen meditieren oder machen Yoga. Ich unter- suche physikalische Fragen. Und die Musik? Hast du mal in einer Band ge- spielt? Vor zehn Jahren hatte ich eine Band in Neu- graben, die nannte sich „Barfuß Ägypten“ und ging Richtung Reggae, Dancehall, Ska. Das Feuer in mir, Musik zu machen, ist noch da und führt mich in sehr diverse Richtungen, was mir viele Themen und Welten näherbringt. Welche Welt wäre für dich als Schauspieler die ideale? Ich wünsche mir, Teil eines Ensembles zu sein und etwas aktiv mitgestalten zu können, was ich in Altona jetzt immer mehr erlebe und was mich gerade sehr erfüllt. Theater zu gestalten, ist heutzutage eine große Aufgabe: Was will man darstellen? Welche Werte will man ver- treten? Welche Grenzen setzt die Moral? Wel- che Stücke und Autoren will man auf die Bühne bringen? Welcher Austausch findet zwischen Bühne und Gesellschaft statt? Das klingt, als seiest du bereits am Ziel an- gekommen … Ich könnte mir auch vorstellen, einmal woan- ders zu spielen. Ein Schritt in etwas Neues, Unbekanntes ist immer ein guter. Es geht mir darum, Erfahrungen zu sammeln, die mich auf persönlicher Ebene weiterbringen und an denen ich als Mensch wachsen kann. Dabei sollte man seine Schritte aber nicht zu sehr an seine Erwartungen und Hoffnungen knüpfen, weil dann die Enttäuschung umso großer ist, wenn man scheitert. Man sollte einfach offen sein für alles, was kommt. Interview: Sören Ingwersen 28. JANUAR (PREMIERE) UND WEITERE TERMINE; Altonaer Theater Für die Bühnenfassung von Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ schlüpfst du in die Rolle des Ich-Erzählers Michael Berg, der in der Rückschau auf sein Leben blickt. Da kommen Erinnerungen an die „Kempow- ski-Saga“ auf … Unsere Stückfassung löst sich von der Ich- Perspektive der Vorlage, indem die Erzähltexte auf das fünfköpfige Ensemble aufgeteilt wer- den. Dadurch entsteht eine ganz andere Dy- namik. Das hat mich bei der ersten Leseprobe sehr positiv überrascht. Wer hat die Theaterfassung erstellt? Die Regisseurin und Autorin Mirjam Neidhart für die Uraufführung des Stücks an der Würt- tembergischen Landesbühne Esslingen. Kai Hufnagel, der imApril auch den Monolog „ZOV – Der verbotene Bericht“ für die Foyerbühne inszeniert hat, hat diese Fassung dann umge- schrieben. Du arbeitest zum ersten Mal mit Kai Hufnagel zusammen? Vor einem Jahr war er mein Spielpartner im vierköpfigen Ensemble von „A long way down“. Dass wir uns dort schon auf kollegiale Weise kennengelernt haben, wird unserer neuen Zu- sammenarbeit bestimmt guttun. Weil er selbst auch Schauspieler ist, glaube ich, dass er vie- les mit uns zusammen entwickeln und nicht nur sein Ding durchklopfen wird. Du spielst den 15-jährigen Michael Berg, der 1958 eine Affäre mit der 21 Jahre älteren Hanna Schmitz eingeht. Er liest ihr aus Bü- chern vor und hat Sex mit ihr. Hast du eher gejubelt oder geschluckt, als dir die Rolle angeboten wurde? Ich kannte den Stoff vorher nicht und habe eher geschluckt, weil zwischen Hanna und Mi- chael ein so großer Altersunterschied besteht und das im Roman eigentlich nicht kritisch reflektiert wird. Dass ihre Beziehung als ro- mantische Liebesgeschichte dargestellt wird, Ichwünschemir, Teil eines Ensembles zu sein und etwas aktivmitgestalten zu können, was ich in Altona jetzt immer mehr erlebe und wasmich gerade sehr erfüllt - Johan Richter 18 DER LETZTE PINGUIN KOMÖDIE VON SÖNKE ANDRESEN // 14.1. – 24.2.2024 OP PLATTDÜÜTSCH & HOCHDEUTSCH Foto: Sinje Hasheider Schräge Busreisegesellschaft stellt Fragen nach dem Menschsein: „Der Garten der Lüste“ Vor über 30 Jahren trafen Sven-Eric Bechtolf (links) und Stefan Kurt sich schon einmal beim „Endspiel“ Foto: Katerina Kepka Foto: Joachim Gern Foto: Martin Argyroglo THEATER Endspiel Apokalyptische Clownerie Im Schach hat das Endspiel seine eigenen Gesetze: Nur noch wenige Figuren sind im Feld und die Aktivität geht vom König aus. Einem kö- niglichen Machthaber ähnelt auch Hamm, der Protagonist in Samuel Becketts Stück „Endspiel“ („Fin de partie“). Der blinde, lahme Zyniker thront im Rollstuhl und hält nicht nur seinen Diener Clov in Abhängig- keit, sondern auch die verkrüppelten Eltern Nagg und Nell, die in Müll- tonnen hausen. Beckett schrieb die 1957 uraufgeführte Groteske, in der vier unselige Gestalten auf das Ende jeglicher Existenz warten, im Angesicht des Kalten Krieges. 1992 zeigte das Thalia Theater eine von Galgenhumor geprägte Inszenierung Wolf-Dietrich Sprengers. Zusam- men mit Sven-Eric Bechtolf und Stefan Kurt, die schon damals als Hamm und Clov auftraten, bringt der Regisseur jetzt eine Neufassung der Produktion auf die Bühne des St. Pauli Theaters. (jp) 6. JANUAR (PREMIERE), 7.–10. JANUAR; St. Pauli Theater Der Garten der Lüste Hieronymus-Bosch-Collage als Zivilisationsmodell Wie auf einer Bühne versammeln sich auf den Holztafeln des nieder- ländischen Renaissancemalers Hieronymus Bosch illustre Gestal- ten zu rätselhafter Interaktion. Der französische Regisseur Philippe Quesne und seine Compagnie Vivarium Studio haben sich von der Komplexität des allegorisch aufgeladenen Gemäldes „Der Garten der Lüste“ zu einer Inszenierung inspirieren lassen, die denselben Titel trägt. Die Rahmenhandlung ist offen für alles: Eine Busreise- gesellschaft strandet imNirgendwo und pflegt einen kulturellen Aus- tausch – voller literarischer Versatzstücke, musikalischer Fragmente und großer Fragen. Dabei greift die Truppe auch Motive aus dem 500 Jahre alten Bosch-Triptychon auf und ver- wandelt sie in lebende Bilder. Das Stück, 2023 uraufgeführt beim Theaterfestival von Avi- gnon imSteinbruch von Boul- bon, ist nun auf Kampnagel zu Gast. (jp) 25.–27. JANUAR; Kampnagel

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