HHPur-2022_01
Pleasure „Are you here for business or pleasure?“ wird die junge Schwedin Linnéa gefragt, als sie den Zoll am Flughafen von L.A. passiert. Ihre prompte Antwort: „Pleasure“! Eine ziemlich optimistische Progno- se, wie der mutige Film der schwedischen Regisseurin Ninja Thy- berg in der Folge erzählen wird. Kaum hat Linnéa die „Stadt der Engel“ betreten, verwandelt sie sich in die knallharte Einzelkämp- ferin „Bella Cherry“ und hat nur ein Ziel: Die „Adult Movie“-Szene von L.A. aufzumischen und in deren Olymp aufzusteigen! In Bellas Schlepptau erhält man einen (mitunter im wahrsten Wortsinne) fesselnden Einblick in das „Kellergewölbe“ von Hollywood. Thyberg rekrutierte ihren kompletten Cast (mit Ausnahme der großartigen Hauptdarstellerin Sofia Kappel) aus der Pornofilm- und Sexarbei- ter-Branche. Das verleiht dem Film eine verblüffend unbekümmer- te, entwaffnende Authentizität. Sensible Zwischentöne und stim- mige Details (Neid und Missgunst unter Crew-Mitgliedern, verschwo- rene Strukturen im Biz, heimliche Hilfsmittel und erotische Fett- näpfchen) machen „Pleasure“ zu einer erhellenden Erkundungstour durch geheimnisvolle Feuchtgebiete. Doch letztlich geht es hier um die alten Themen Freundschaft, Integrität und Verrat. Die Dra- men, die sich entspinnen, könnten auch in einer Kanzlei, einer Bank oder einem „normalen“ Hollywood-Studio stattfinden. Anders als dort wird man „down here“ natürlich auch mit düsteren, ziemlich unerträglichen Szenen konfrontiert. Mehrmals ist man Zeuge expliziter Vergewaltigung vor laufender Kamera, wobei Bella mal Opfer, mal Täter ist. Ihre eigenen Dämonen bleiben dabei vage. An- deutungen familiärer Gewalt, die sie Kolleginnen gegenüber fallen lässt, stehen ungeklärt im Raum. Thyberg unterlässt es bewusst, über Linnéas/Bellas Tun und Lassen zu richten. Ihre (über selt- same Seitenpfade) feministische, höchst widersprüchliche und ge- rade deshalb zutiefst menschliche Heldin ist irgendwie „nicht zu packen“. Im forcierten, leider etwas verunglückten Finale flutscht dieses „Monster“ dann sogar seiner Erschafferin durch die Finger. (cc) AB 13. JANUAR S, NL, F 2021; 109 Min.; R: Ninja Thyberg; D: Sofia Kappel, Evelyn Claire, Dana DeArmond ★★★ ★★ Foto: Plattform Produktion Spencer Sandringham, Dezember 1991. Ein Militärkonvoi hält vor dem kö- niglichen Landsitz, Soldaten imMarschritt schleppen Richtung Kü- chentrakt, was in den nächsten drei Tage der Queen und ihrer Fa- milie an Köstlichkeiten aufgetischt wird. Christmas bei den Royals verlangt maximale Disziplin, alle sind versammelt, nur Prinzessin Diana (grandios: Kristen Stewart) hat sich verspätet, und sie wird es immer wieder tun. Rebellion oder Angst? Ihre Ehe mit Charles ist auf dem Tiefpunkt angelangt. Der Zuschauer spürt vom ersten Moment an die Kälte, das Misstrauen, die Lady Di umgeben: be- wacht, gegängelt, isoliert, der Lächerlichkeit preisgegeben. Spencer, ihr Mädchenname steht für Identität, Selbstbestimmung. Unweit von hier ist sie aufgewachsen. Die Vogelscheuche auf dem Feld trägt noch die Jacke ihres Vaters. Bilder einer glücklichen Kindheit verdrängen oft die Gegenwart. Die Verzweifelte will heim, doch das verlassene Elternhaus ist verbarrikadiert mit Stachel- draht wie eine Sperrzone. Die Paranoia wächst, Lady Di glaubt zu ersticken, reißt sich beim Dinner das Perlencollier vom Hals, die Perlen kullern in die Suppe, sie schluckt sie betont gleichmütig hinunter. Die Kette ist das Weihnachtspräsent des Gatten, die Ge- liebte bekam die gleiche. Dianas Perspektive wird zu unserer. Der Geist von Anne Boleyn verfolgt sie, jene Königin, geköpft wegen angeblicher Untreue. Regisseur Pablo Larraín und Drehbuchautor Steven Knight befreien die Protagonistin von ihrer Rolle als Prinzessin, sie darf eine Frau sein aus Fleisch und Blut, muss nicht um Sympathie buhlen, kann störrisch sein, zornig, ungerecht, nahe demWahnsinn. Sie darf sich verlieren, um sich dann neu zu definieren. „Spencer“ ist das Gegen- stück zu „Jackie“ (2016), ein mitreißendes, collageartiges Drama zwischen Fiktion und Realität, Horror, Sehnsucht und Satire: poe- tisch, bizarr, ästhetisch betörend, überbordend an Assoziationen. Wie ein Pfauengefieder umgibt das Abendkleid die Protagonistin, wenn sie sich kniend über der Toilette erbricht. Die endlosen furcht- einflößenden Korridore erinnern an Kubricks „Shining“, nur für die königliche Familie ist sie, Diana, das Monster. Larraín schenkt ihr und den beiden Söhnen ein wundervoll optimistisches Finale. (ag) AB 13. JANUAR D/UK 2021; 117 Min.; R: Pablo Larraín; D: Kristen Stewart, Sally Hawkins, Timothy Spall ★★★★★ Foto: DCM FILM 42 43 Support your local Stores! Jetzt neu – im Handel oder online über www.meine-zeitschrift.de szene-hamburg.com HAMBURGS SHOPPING GUIDE ISBN978-3-946677-68-0 SPEZIALNR.17 2022 |€8,50 KAUFT EIN SPEZIALNR.17 SZENEHAMBURGKAUFTEIN2022 €8,50 FAIRE MODE Geschichten, Geschäfte und Gelegenheiten DIE BESTEN Top-Spots für Lifestyle, Beauty & Fashion FUTTERPAUSE Ausgewählte Tipps des Genuss-Guide Hamburg Support your local Stores 001_Titel_2022 1 22.11.2021 18:00:17 Niemand ist bei den Kälbern Christin (Saskia Rosendahl) und Jan (Rick Okon), beide Mitte 20, leben auf dem Land. Während sich Jan voll und ganz auf den Betrieb des fa- miliären, mecklenburgischen Bauernhofs konzentriert, träumt Christin vom Großstadtleben – ohne es jemals klar zu äußern. Der Alltag mit den Kühen, Feldern und gelegentlichen Dorfpartys erscheint ihr eben- so wie ihrer Freundin Caro (Elisa Schlott) so eintönig und unbefriedi- gend wie die Beziehung mit Jan. Schon ihre Kleidungswahl spricht Bände: Sie zelebriert eine Freizügigkeit, die sich nicht so recht mit den Erfordernissen eines patriarchal geprägten Landlebens deckt. Jan scheint dies zu wissen, behilft sich aber vor allem mit Ignoranz und einem harten Umgangston. Als Christin den aus Hamburg stammen- den Windkraftingenieur Klaus (Godehard Giese) kennenlernt, sucht sie seine Nähe, nur um der Tristesse für kurze Zeit zu entkommen, was nicht ohne Folgen bleibt. Regisseurin Sabrina Sarabi („Prélude“) erzählt in schonungslosen, kraft- vollen Bildern (Kamera: Max Preiss) vom Leben und der Enge der Pro- vinz sowie der Sehnsucht nach Weite und Abenteuer. „Niemand ist bei den Kälbern“ feierte in Locarno Weltpremiere. Saskia Rosendahl („Werk ohne Autor“) wurde dort mit dem Leoparden als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Ihre ambivalente Darstellung von Christin ist von einer fesselnden Zerrissenheit. Bereits in „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ konnte sie mit ihrem natürlichen Spiel überzeugen. Diesmal prägt sie damit den ganzen Film. Die Kamera bleibt stets nah dran, was dem Film zusätzliche Direktheit verleiht. Produziert wurde der auf den FILM Foto: Filmwelt/Weydemann Bros./Max Preiss gleichnamigen Erfolgsroman von Alina Herbing basierende Film von den Hamburger Filmemachern Weydemann Bros., die auch den Erfolgsfilm „Systemsprenger“ realisierten. Beim Filmfest Hamburg wurde „Niemand ist bei den Kälbern“ mit dem Ham- burger Produzentenpreis für Deutsche Kinoproduktionen aus- gezeichnet. (mag) AB 20. JANUAR D 2021; 116 Min.; R: Sabrina Sarabi; D: Saskia Rosendahl, Rick Okon, Godehard Giese ★★★★★
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