Januar 2018
10 Die Band, die sich bisher so schwertat, etwas Persönliches preis- zugeben, veröffentlich plötzlich ein autobiografisches Album: „Die Unendlichkeit“. Warum, wieso, weshalb: ein Gespräch mit Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow Foto: Michael Petersohn Schwank aus der Jugend TOCOTRONIC Dirk, über das neue Tocotronic-Album „Die Un- endlichkeit“ habt ihr als Band bereits festge- halten: „Mit ganz einfachen Worten, offen und ungepanzert, berichten wir über uns selbst.“ Wie würdest du diese vorherigen „Panzer“ denn beschreiben? Und: Fiel es schwer, sie abzulegen? Ich denke, man trägt zunächst immer eine Art Körperpanzer mit sich herum, wenn es um per- sönliche, autobiografische Themen geht. Man will sich schützen, wenig von sich preisgeben. Man sucht nach einer gewissen Distanz. Nicht zuletzt auch zu sich selbst. Im autobiografischen Schreiben für das Album musste ich diese Di- stanz zu mir selber überwinden, was teilweise eine sehr verstörende, im Großen und Ganzen aber spannende Erfahrung war. Die Entscheidung, für das Album autobiogra- fische Lieder zu schreiben, erforderte auch eine Entscheidung in der Form: Während wir mit To- cotronic bei vorherigen Alben oft nach abwegigen Konstruktionen gesucht haben, um etwas von uns preiszugeben, haben wir hier die Einfach- heit gesucht, weil wir wussten, dass in ihr eine große Kraft steckt. Geführt hat diese Öffnung zu Liedern, die von nichts weniger als Angst, Liebe, Einsamkeit und Tod handeln. Welches Thema hat beim Song- schreiben am meisten von dir abverlangt? Der Song „Unwiederbringlich“, der vom ange- kündigten Tod meines ältesten Jugendfreundes handelt, war sicherlich der am schwersten zu schreibende Song. Das hat viel Kraft gekostet und ich habe mit Jan Müller, der ein hervor- ragender Lektor ist, um jedes Wort gerungen. Es geht nun auch um deine Zeit vor Hamburg: Ums Außenseiterdasein, Beleidigungen, Flucht. Rückblickend: Welche Lebenslektionen muss- test du in deiner Jugend lernen? Ich bin recht behütet in der westdeutschen Pro- vinz der siebziger und achtziger Jahre aufge- wachsen, war als Kind sehr fantasievoll und kreativ, aber auch ein Angsthase. Ich habe früh gelernt, dass ich nicht in die auf Stärke und Do- minanz ausgerichtete Welt meiner männlichen Mitschüler passe. Außerdem hatte ich ein frühes Faible für modische Extravaganzen, weshalb ich oft Beleidigungen und Bedrohungen ausgesetzt war, wenn ich durch die Fußgängerzone stol- zierte (lacht). Diese Erfahrung haben wir alle in der Band gemacht, selbst Rick drüben in Maine, so kam es zu dem Lied „Hey Du“. Wann war die erwähnte Flucht unausweich- lich? Und warum fiel die Wahl auf Hamburg? Mein großer Traum war es schon als Jugendli- cher, in einer Rockband zu spielen, das gestal- tete sich in der Provinz aber sehr schwierig. Hamburg war mein absoluter Sehnsuchtsort, da ich die ersten Alben der Bands der „Ham- burger Schule“ kannte. Ich war Fan von „Capt. Kirk &“, der „Kolossalen Jugend“ und „Huah!“ Als ich durch einen Zufall Jan Müller kennen- lernte und durch ihn Arne Zank und wir durch die Bandgründung diesen Zufall sozusagen fi- xierten, war mein Traum endlich Wirklichkeit geworden. Das hätte zu diesem Zeitpunkt nur in Hamburg passieren können. Interview: Erik Brandt-Höge „Die Unendlichkeit“ erscheint am 26.1. (Vertigo Berlin/Universal) 16. MÄRZ 19:00 Uhr; Große Freiheit 36
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